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Aufwärts
Jahrgang 20, Nr. 7 (July 15, 1967)
Scheuch, Erwin K.
Entlarven Sie die Gegner der Freiheit!, pp. 8-9
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in erster Linie eine besondere Kategorie Mensch, genannt Studenten, sondern junge Menschen. Warum protestieren diese jungen Men- schen? Vielleicht haben die älteren Men- schen hieran schuld? Vielleicht haben die älteren Menschen ihre Freiheit der Meinung zu leicht gegenüber den Ver- suchungen zur Anpassung aufgegeben, der Neigung zum Mitschwimmen im großen Strom? Noch am Montag fragte sich der Christian Science Monitor, eine wirklich christliche Zeitung, ob nicht der Studentenprotest Ausdruck des Ärger- nisses sei, das die Gesellschaft den jungen Menschen gebe. Studieren ja, aber... Wie wenig fragte man sich bei uns, ob denn bei aller Übertreibung in den Aus- drucksformen der Protest von Studenten nicht vielleicht einen wirklichen Gegen- stand habe, ob es nicht etwas zum Pro- testieren gebe. Einfache Mitbürger pfle- gen öfters zu sagen: die Studenten soll- ten doch studieren, statt zu protestieren. Selbstverständlich sollten Studenten auch studieren. Wir an den Hochschulen wären aber wohl nicht unserer Aufgabe gerecht geworden, wenn Studenten nicht kritischer wären als Familienväter im Be- ruf. Wir haben doch wohl an den Hoch- wußtsein zu entwickeln. Es gibt nun gute Gründe, warum dieses kritische Bewußtsein, diese leichtere Be- reitschaft zur Unruhe, sich jetzt und zu- nehmend im politischen Protest der Studenten als Gruppe äußert. Vielleicht sind Sie, meine Kommilitonen, sich über die Gründe, über die gesellschaftlichen Bedingungen, nicht klar, warum nun Unruhe an den Hochschulen herrscht. Unruhe an den Hochschulen, das ist weitgehend der Preis für Ruhe in der Gesellschaft. Als zwischen Parteien noch Gegensätze bestanden - oder bes- ser: als in der Politik die bestehenden Gegensätze noch Gegenstand öffent- licher Diskussion waren - da war an den Hochschulen mehr Ruhe als heute. Wo sonst kann heute noch über wirkliche Gegensätze gestritten werden, und wo kann heute noch auf unerfreuliche Wand- lungen in der Gesellschaft öffentlich reagiert werden, wenn nicht in unseren Hochschulen. Kritisches Bewußtsein Wir Hochschullehrer sehen die Unruhe unter den Studenten nicht gerne. Ein jeder von uns wünscht in seinem Lebens- bereich Ruhe, auf daß er seinen eigenen Geschäften nachgehen kann. Wir müs- sen aber an den Hochschulen verstehen, warum das Ruhehalten so schwer ist. Mehr Verständnis für diese gesellschaft- lichen Bedingungen würde vielleicht verhindern, daß die Hochschulen ersatz- weise zum Ort politischen Streits, ja politischer Straßenkämpfe würden. Da- für sind Hochschulen sicherlich nicht der Ort. Sie sind aber ein Ort, an dem sich kriti- sches Bewußtsein real verwirklichen sollte. An ihnen liegt es, die Gegensfände zur Anwendung kritischen Bewußtseins angemessen zu wählen. Und die Formen zu wählen, in denen Protest auch wirk- sam ausgedrückt wird. Dies soll ein Augenblick der Besinnung sein, und deshalb bitte ich Sie, ein wenig darüber nachzudenken, warum es auch weiter für Sie schwer sein wird, sich an- gemessen zu verhalten, angemessen die kritische Rolle in der Gesellschaft zu erfüllen, die zu erfüllen Sie durch die Hochschule vorbereitet werden sollen. Seien Sie darauf vorbereitet, daß von manchen Seiten Haß gegen Sie als Stu- denten geschürt werden wird - zumin- dest, wenn Sie sich kritisch betätigen. Beantworten Sie den Haß nicht mit Haß, sondern entlarven Sie die Gegner der Freiheit. Fragen An Anlässen, die Ihre Kontrolle über Ihr eigenes Verhalten auf die Probe stellen werden, dürfte es in Zukunft nicht fehlen. Das Verhalten einiger Würdenträger in Berlin ist ein Beispiel für Anlässe, die Haß provozieren können und die doch eigentlich nur die Entschlossenheit be- stärken sollten, Mißstände auszuräumen. Dies sollte eigentlich auch für Behörden in Berlin ein Augenblick der Trauer sein und ein Augenblick der Selbstbesinnung. Herr Polizeipräsident Duensing, wie den- ken Sie heute über Ihren Kommentar zu den Studentenunruhen, den Sie auf ehrenwerte Männer begegnen und die doch in diesem Augenblick mensch- licher Tragödien nicht menschlich reagie- ren. Wir älteren Menschen in dieser Gesell- schaft müssen uns in dieser Situation des Protestes der Studenten, und eines Unrechts an den Studenten, vor einer besonderen Art von Pharisäertum hüten: jeden Formfehler der Studenten zum Anlaß der Distanzierung von unbeque- men Studenten zu nehmen. Wir älteren müssen jetzt versuchen, Ihre Sache zu verstehen, statt an Ihren Formen Anstoß zu nehmen. Sie alle, liebe Kommilitonen, haben eine schwere Zeit vor sich. Es scheint, als ob eine jede Industriegesellschaft Haßob- jekte brauchte. Wir haben in Deutschland keine Neger, und in unserer Mitte wellen jetzt nicht mehr diejenigen, die uns in Deutschland einmal als Haßobjekte dienten. Sie könnten jetzt leicht in die Situation geraten, zu solchen Haßobjek- ten zu werden. Das wird von Ihnen mehr Vernunft ver- langen, als man von Menschen Ihren Alters und in Ihrer Situation erwarten kann, ja erwarten darf. Und wahrschein- lich mehr an Vernunft, als Sie haben werden. Denken Sie an den Toten und die Ver- letzten. Protestieren ist in unserer Gesell- schaft gegenwärtig kein Spaß mehr. Sie haben heute einen schweren Stand und eine wichtige Aufgabe - eine wichtige Aufgabe für uns alle. Das ist keine Zeit für frisch-fröhliches Provotum. Wohl aber eine Zeit zum kritischen Protest in einer Gesellschaft, die Ordnung über Wahrheit, und erst recht über Kritik, zu stellen pflegt. Benno Ohnesorg wurde hierfür absichts- los zu einem Zeugen.
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