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Aufwärts
Jahrgang 19, Nr. 1 (January 15, 1966)
Déry, Tibor
Solange wir leben, pp. 6-7
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also aie LieDe weruen zum Leuen schlechthin. Die gelassene Intelli- genz, der dichterische Instinkt und die Ukonomie der Mittel geben dem erzählenden Werk des ungarischen Schriftstellers Tibor Döry seinen europäischen Rang. D ie Zellentür ging auf, der Gefängnis- wärter warf etwas hinein. .Hier!" sagte er. <ihre Zivilkleiderl Um- ziehen! Sie werden gleich rasiert." Im Sack fand B. die Kleider und die Schuhe, die er vor sieben Jahren abge- legt hatte. Eine Stunde später wurde er zur engen Schreibstube der Gefängnisverwaltung gebracht. <Kommen Sie her!" sagte der Wachtmeister am Schreibtisch. <Ihr Name...? Name der Mutter...? Künfti- ger Aufenthaltsort...?V <Ich weiß nicht", sagte B. <Was?" fragte der Wachtmeister, <Sie wissen nicht, wohin Sie wollen?" <Nein", sagte B. ~Ich weiß nicht, wohin man mich bringt." Der Wachtmeister blickte ihn mißmutig an. <Man bringt Sie nirgendwo hin", brummte er. <Sie können gleich bei Ihrer Frau zu Mittag essen. Haben Sie verstan- den?" Der Gefangene gab keine Antwort. <Also, wohin gehen Sie?" wiederholte der Wachtmeister. <Szilfastraße 17. Warum werde ich ent- lassen?" <Fragen Sie nicht so viel", murrte der Wachtmeister. <Sie werden entlassen, und damit hat sich's." Aus dem nächsten Zimmer holte man seine Wertsachen. <Unterschreiben Sie hier!" Es war eine Quittung über die Armband- uhr aus Nickel, die Füllfeder und die Brieftasche. <Und hier auch." Es war eine zweite Quittung über hundert- sechsundvierzig Forint, seinen Arbeits- lohn. Schließlich wurde ihm der Entlas- sungsschein ausgehändigt. Die punk- tierte Zeile, die mit <Grund der Verhaf- tung" anfing, war leer geblieben. Mit drei anderen Gefangenen wurde er über den Hof zum Haupteingang beglei- tet. Doch bevor sie das Tor erreichten, wurden sie von einem Offizier im Lauf- schritt eingeholt. Er ergriff einen der vier Entlassenen und führte ihn zwischen zwei mit Maschinenpistolen bewaffneten Wärtern ins Gefängnisgebäude zurück. Das frisch rasierte Gesicht des Häftlings wurde gelb wie bei einem plötzlichen Gallenanfall; seine Augen erstarrten glasig. Die übrigen drei kamen zum Tor. <Dort hält die Straßenbahn", sagte der Wachtposten zu B. B. blieb stehen und schaute zu Boden. <Worauf warten Sie noch?" fragte der Posten. B. bewegte sich nicht. <Scheren Sie sich zum Teufel!" sagte der Posten. <Worauf warten Sie denn?" ffnerin lachte. ~Wird das nicht Sie?" ferheiratet, Genossin", sagte der <Meine Frau schaut gern zu, trinke." e. <Sie schaut zu?" erständlich !" unkles Bier?" Inca " b1u|1 *i|llltrll urll. Ix|ivIIlI|u Vu-I IIIh i- griff in die Hosenteschen, aber er fand dort kein Taschentuch, um sich den Schweiß von der Stirn zu wischen. Knir- schend rollte die Straßenbahn heran. B. sprang sofort auf. Aus dem Anhänger stieg ein Gefängniswärter. Als er am Triebwagen vorbeiging, wandte er das pockennarbige Gesicht zu B. empor und blickte ihn mit den winzigen Schweins- augen lange und herausfordernd an. 8. grüßte ihn nicht. Die Straßenbahn fuhr an. In dieser Minute - in dem Bruchteil einer Minute, in dem er den Wärter nicht grüßte und die Straßenbahn anfuhr - ertönte um B. die Welt. Es war ein ähnliches Gefühl wie im Kino, wenn der Film wegen eines technischen Fehlers eine Zeitlang stumm weiterläuft, dann aber der Ton plötzlich, mitten in einem Satz oder einem Wort, in die leer schnappenden Münder der Schauspieler zurückkehrt und den taub- stummen Saal, in dem auch das Publi- kum eine Dimension verloren zu haben schien, bis zur Decke hinauf mit schal- lender Musik, mit Gesang und Rede füllt. Ringsumher explodierten die Farben. Die Straßenbahn, die aus der Gegenrichtung kam, war so gelb, wie B. es noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Auf den Gehsteigen spazierten Tausende von Menschen, alle in Zivil, einer schöner als der andere, und jeder von jedem ver- schieden. Und die Frauen! Als B. fühlte, wie ihm die Tränen in die Augen stiegen, ging er ins Innere der Straßenbahn. Die Schaffnerin hatte eine liebliche, herzergreifende weiche Stim- me. B. löste eine Fahrkarte und setzte sich am Ende des Wagens auf einen einsa- men Eckplatz. Er verkroch sich, denn er fürchtete, sich bei offenen Sinnen nicht mehr beherrschen zu können. Als er ein- mal zum Fenster hinausblickte, sah er auf dem Gehsteig vor einer Brauerei ei- nen Mann, der einer jungen Frau das Gesicht streichelte. Abermals griff er in die Hosentaschen, fand aber wieder kein Taschentuch. Ein Arbeiter ließ sich mit sechs Flaschen Bier in der offenen Ak- tentasche auf dem leeren Sitz ihm gegen- über nieder. SHeiles schmeckt besser." <Meine Frau schaut mir lieber beim dunk- len zu." Sie lachte. <Sie könnten mir eine Flasche dalassen !" <Dunkles?" ~Jawohl, dunklesl" <Wozu denn?" Sie lachte. <Zum Mitnehmen für meinen Mann." <Wozu braucht der das Dunkle, wenn er das Blonde liebt?" fragte der Arbeiter. Sie lachte. Die Straßenbahn hielt an. B. stieg aus und nahm ein Taxi. <Nach Buda", sagte er. Der Fahrer drehte sich um und blickte ihn an. ~Ober welche Brücke?" B. starrte vor sich hin. ~Ober welche Brücke?" <Kennen Sie sich in der Stadt nicht aus?" fragte der Fahrer. <Ober die Margaretenbrücke", sagte B. Das Taxi fuhr an. <Wenn Sie einen Tabakladen sehen...", sagte B. zu dem Fahrer. Drei Häuser weiter hielt der Wagen. B. schaute aus dem Fenster. Sie waren vor einer offenen Tür mit einem Berg roter Radieschen, einem Berg grüner Salate und einem Berg roter Jonathan-Äpfel stehengeblieben. Nebenan sah man den schmalen Eingang eines Tabakladens. <Bitte, bleiben Sie nur sitzen", sagte der Fahrer, der sich umgedreht hatte. <Ich hole schon welche. Möchten Sie eine be- stimmte Sorte?" B. betrachtete die Radieschen. Seine Hände zitterten. SKossuth?" ~Ja", sagte B. <Und eine Schachtel Streichhölzer." Der Fahrer stieg aus. <Lassen Sie's Pur, wir werden es dem Fahrpreis zuschlagen. Eine Packung?" <Wenn Sie so nett sind", sagte B. <Wollen Sie sich gleich eine anzünden?" fragte der Fahrer, als er zurückkam. <Auch mein Schwager hat zwei Jahre gesessen. Nachher ist er gleich in einen Tabakladen gegangen. Er hat erst mal zwei Kossuth geraucht, eine nach der anderen, dann ist er heim zur Familie." <Sieht man mir's an?" fragte B. nach einer Weile. ~Tja, man sieht's vielleicht schon ein wenig", sagte der Fahrer. <Auch mein Schwager hatte damals so ein Gesicht Sie könnten natürlich auch aus dem Krankenhaus kommen, aber dort werden die Kleider nicht so zerknüllt. Wie lange sind Sie drin gewesen?" <Sieben Jahre", sagte 8. Der Fahrer stieß einen Pfiff aus. <Poli- tisch?" ~Ja", sagte B. <Anderthalb Jahre in der Todeszelle." <Und jetzt wurden Sie freigelassen?" ~Anscheinend", sagte B. <Sieht man mir's sehr an?" Der Fahrer zog beide Schultern hoch und ließ sie wieder fallen. <Sieben Jahre", wiederholte er. <Kein Wunder!" B. stieg an der unteren Endstation der Zahnradbahn aus, um die restliche Strek- ke zu Fuß zurückzulegen. Er wollte sich an die freie Bewegung gewöhnen, bevor er seine Frau wiedersah. Der Fahrer nahm kein Trinkgeld an. <Sie werden das Geld noch brauchen, Genosse", sagte er. <Geben Sie es für nichts als für Ihre Ge- sundheit aus. Jeden Tag Fleisch und einen halben Liter guten Wein, dann sind Sie bald wieder auf der Höhe." <Auf Wiedersehen", sagte B. Er ging nun eine halbe Stunde lang durch schmale, sonnenüberflutete Gassen, die den Abhang mit ihren Obstbäumen in einen blühenden Teppich verwandelten. Schließlich blieb er vor einem Haus ste- hen. Sie wohnten im ersten Stock. Links und rechts vor der Haustür standen zwei weiße Fliederbüsche. Er stieg die Treppe hinauf. Auf das Schellen bekam er keine Ant- wort. An der Tür war kein Namensschild zu sehen. Er ging in das Souterrain und klopfte an der Tür der Hausmeisterwoh- nung. <Guten Tag", grüßte er die Frau, die in der Tür stand. Sie war dürr und gealtert. <Wen suchen Sie, bitte?" <Ich bin B.", sagte B. <Wohnt meine Frau noch hier?" <Du lieber Himmel!" sagte die Frau. B. schaute zu Boden. <Wohnt meine Frau noch hier?" Die Frau ließ die Klinke los und lehnte sich gegen den Türpfosten. ~Sie sind also heimgekehrt? Du lieber Himmel! Natürlich wohnt sie hier. Auch sie wußte nicht, daß Sie heimkommen? Du All- mächtiger! Natürlich wohnt sie hier."
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