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Aufwärts
Jahrgang 8, Nr. 6 (March 17, 1955)
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LRB.-R.1b-H.45/5, p. [1]
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* Honord Daumier: Los Avocats (Ausschnitt) ie alte Frau saß am Fenster und schaute immer wieder einen Brief, den der Postbote vor einer Stunde gebracht tte. Es war ein wichtiger Brief, denn sie hatte den npfang unterschreiben müssen. Der Brief hing mit dem >d ihres Mannes zusammen, der vor einigen Wochen tnft hinübergeschlummert war. Uber fünfzig Jahre hatte e das Leben mit ihm geteilt. Es war ein nicht immer Ichtes Leben gewesen. Das lag weniger an dem Mann 's vielmehr an den Umständen, unter denen sie gelebt tten. Er war Metallarbeiter. Er hatte in seinem arbeits- ichen Leben viele nützliche Dinge geschaffen. Und sein erdienst hatte, wenn er nicht arbeitslos war, zu einem ,scheidenen Leben gereicht. Aber wie das so ist, der ann - und auch sie - konnte kein Unrecht leiden. nd da er sich gegen die Umstände wehrte, wurde er anchmal arbeitslos. Ganz schlimm wurde es im Jahre )33. Da hatten Uniformierte ihn aqs dem Betrieb geholt. Is sie es erfuhr, war sie ins Braune Haus gelaufen. Tag r Tag. Und eines Tages brachte sie ihren Mann auch it. Sie mußte ihn stützen, denn ihr sonst so starker ann konnte nur mühsam gehen. Auf der Straße blieben* e Leute stehen, als sie das Gesicht des Mannes sahen, enn das Antlitz, das die Frau so liebte, war in wenigen agen so verschandelt worden, daß es alle möglichen irben trug. Als sie ihn glücklich daheim hatte, schaute e seinen Körper an. Auch er trug die Merkmale schwerer ißhandlungen. Der Mann genas wieder leidlich. Aber war nicht mehr der alte. Seine körperlichen Kräfte aren gebrochen. Er wurde noch mehrmals <geholt", kam er immer nach einiger Zeit wieder. Er Wurde arbeitslos. le arbeitete für ihn, denn sie liebte ihn. Dann kam der 0mbenkrieg. Sie wurden evakuiert. Keine Arbeit war r zu gering. Sie rettete das Leben des Mannes. Und * brachte ihn über den Krieg. er Mann wurde Invalide und bekam nach dem Zusam- cnbruch des Naziregimes zusätzlich eine Rente als politisch Verfolgter. Sie betrug einige hundert Mark. Sie lebten bescheiden weiter. Dann, wie gesagt, starb der alte Mann. Und sie schaute nun immer wieder in den Brief, den sie vor einer Stunde erhalten hatte. Es war ein amtlicher Brief - und sie hatte unterschreiben müssen. Er kam vom Regierungspräsidenten und hatte oben Zeichen: LRB.-R. 1b-H. 45/54. Le/tB. Das waren Akten- zeichen. Dann kam das Wort: BESCHEID. Eine Anrede hatte man nicht gebraucht. Nur das Wort BESCHEID stand da. Nicht <Verehrte Frau«. Schon gar nicht <Liebe Frau". Nein - und wenn vom Amt ein noch so trauriger Bescheid gegeben wird, wozu da eine Anrede. Es war auch kein Wort des Bedauerns da, daß man ihr einen traurigen Bescheid gab. Nein. Nur der Bescheid, daß kein Zusam- menhang zwischen dem anerkannten gesundheitlichen Schaden des Mannes und der Todesursache angenommen werden könne. Es stand nichts darin, daß sie ja durch den Tod des Mannes ein sehr einsamer und armer Mensch geworden sei. Nichts davon. Nein, es wurden viele Buch- staben und Zahlen angeführt, die im Endeffekt besagten, daß sie nun keine Unterstützung mehr bekomme. Darunter war ein grüner Kreis. Rundum stand: Der Regierungs- präsident - Düsseldorf. Und da saß die alte Frau nun am Fenster und schaute in den Brief. Sie hatte den Mann verloren, der ein ehren- wertes Leben geführt hatte. Und nun bekam sie zum Leben noch eine monatliche Rente von ungefähr achtzig Mark. Das war die Invalidenrente. <Wovon soll ich denn nun leben?" sagte sie vor sich hin. Die alte Frau unterschrieb und nahm aus der Hand des Postboten den Brief. Es war ein amtlicher Brief, der mit dem Tod ihres Mannes zusammenhing, der vor einigen Wochen gestorben war. Sie machte den Brief auf und las ihn. Nichts veränderte sich in ihrem Gesicht, das von Trauer überzogen war. Fast fünfzig Jahre hatte sie mit ihrem Mann zusammengelebt und Ihm zwei Söhne geboren, die im Krieg gefallen waren. Ihr Mann war auf der militärischen Stufenleiter in zwei Kriegen immer weiter hinaufgeklettert - und hatte sie überstanden. Er hatte den verschiedensten Regimen gedient. Gehorsam, immer gehorsam, wenn sie auch manchmal gedacht hatte, er solle sich gegen gewisse Dinge wehren. Aber sie hatte das immer nur gedacht, nie gesagt, denn sie wußte, daß er einem Befehl von oben immer gehorchen würde. Es hatte nur einmal einen Streit gegeben. Das war, als er in die ihr und ihm verhaßte NSDAP eintrat. Der Krieg war aus. Das Land war ein Trümmerhaufen, aber sie bekamen die höchste militärische Pension. Sie hatte sich manchmal gefragt, ob sie das viele Geld ver- dient hatten, aber auch das hatte sie nie laut gesagt. Sie lebten weiter. Sozusagen standesgemäß. Sie hatte den Mann geliebt, sie hatte die Söhne geliebt. Söhne und Mann waren gestorben. Sie war sehr alt. Von Trauer überschattet. Sie hatte keine Forderungen mehr an das Leben. Sie brauchte nicht viel für sich. Aber der Bescheid, den sie vor einer Stunde erhalten hatte, sprach Ihr eine Witwenrente von neunhundert Mark im Monat zu. Sie setzte sich ans Fenster und sagte vor sich hin: .Was soll ich nur mit dem vielen Geld?" - So ist das bei uns mit den Gesetzen, sie erlauben den Menschen auf der einen Seite nicht, menschenwürdig zu lehn Auf der anderen Seite ist das Füllhorn weit geöffnet, denn Irgendwie hat dasi immer noch den Vorrang. hadobu
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