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Heute ist der 1. Mai in vielen L"ndern, auch in Deutschland, gesetzlicher Feiertag mit allgemeiner Arbeitsruhe. Das war nicht immer so. Vielmehr muþte der 1. Mai als Kampf- und Feiertag der Arbeit erst in jahr. zehntelangem Kampf errungen werden. Zwar wurde der k¸hne Beschluþ, die Arbeiter- schaft aller L"nder aufzufordern, den 1. Mai durch allgemeine Arbeitsruhe und Demon- strationen f¸r ihre Forderungen, Achtstun- dentag, Weltfrieden und soziale Sicherheit, auf einem internationalen Kongreþ im Juli 1889 in Paris mit groþer Einm¸tigkeit und Begeisterung gefaþt. Der Beschluþ fand am n"chstfolgenden 1. Mai 1890, also vor 6C Jahren, einen f¸r damalige Verh"ltnisse unerwartet groþen Widerhall bei den fort- geschrittenen Arbeitern in vielen Industrie- zentren Europas. Aber relativ war ihre Zahl doch noch sehr klein. Dies l–ste Erschrecken und sch"rfsten Wider- stand bei allen sogenannten b¸rgerlichen Schichten und Parteien aus. ãDas sind die Radaubr¸der und gottlosen Gesellen, die am 1. Mai feiern und Krach schlagen.' So habe ich in meinem Leben in der schw"- bischen Dorfschule zum erstenmal etwas vom 1. Mai geh–rt. Ÿhnliches erz"hlte mir auch mein Lehrmeister, als ich 1901 in einem Stuttgarter Vorort in die Lehre trat. Da ich nie etwas anderes geh–rt hatte, war ich von der Schlechtigkeit dieser ,Radaumacher' ¸berzeugt. Aber neugierig war ich doch, diese Roten' und ihren ãRadau' einmal selbst zu sehen. Ein gl¸cklicher Zufall verschaffte mir die Gelegenheit. Am 1. Mai 1902 muþte ich mit einem Handwagen Waren in einem Gesch"ft in Stuttgart abholen. Ich kam ãgerade zur rechten Zeit'. Mein Weg f¸hrte mich an dem Platz vorbei, wo der Umzug seine Aufstel- lung nahm. Hier konnte ich zun"chst in aller Ruhe die Fahnen und die Transparente mit den verschiedenen Forderungen lesen. Da sah ich eine plakatartige groþe Zeich- nung auf einem groþen Tuch mit dem Bildnis eines Mannes, der k¸hn eine Fahne vor einer Menge Menschen vorantr"gt. Darunter stand äLassalle, wir folgen dir!' Lassalle? Da- von hatte ich noch nie etwas geh–rt. Der Name klang f¸r meine schw"bischen Ohren auch zu fremd. Noch weniger gefiel mir ein Transparent mit dem Bild eines Mannes, der einen riesigen, Wangen und Ohren v–llig einh¸llenden Bart trug. Karl Marx' stand dar¸ber. Aber kolossal imponierte mir ein Riesen- transparent: Achtstundentag! Acht Stunden Arbeit! Acht Stunden Freizeit! Acht Stunden Schlaf!" Ja, das konnte ich gebrauchen! In meiner Bude gab's formal eine zehnst¸ndige Arbeitszeit. Aber wir Lehrlinge muþten eine halbe Stunde vor Arbeitsbeginn kommen und allerlei Vorbereitungsarbeiten, wie den Kessel einer alten Dampfmaschine heizen usw., erledigen. Nach Arbeitsschluþ muþten wir die Werkstatt ausfegen, den Ofen reini- gen, ZoNULICI LSSle, UHU USa S (IUSZ iS IlClli anderthalb Stunden und mehr. Nach dieser zw–lfst¸ndigen Arbeitszeit muþten wir von 7.30 bis 9.30 Uhr abends in die Fortbildungs- schule gehen. Wir waren immer hundem¸de und wurden deshalb t"glich als elende Faul- pelze beschimpft. Demgegen¸ber die hier propagierte Forderung Achtstundentag'! Das schien mir nicht nur vern¸nftig, sondern eine wahre Himmelsbotschaft. ein nie zu er- reichender Idealzustand. Von dem Augenblick an betrachtete ich die Leute, die am 1. Mai marschierten, mit ganz anderen Augen. Ich entdeckte, daþ es ganz ,ordentliche', ernst aussehende M"nner (wenig Frauen) waren. Ich konnte nichts von ãRadaubr¸dern' entdecken. Als ich dann noch die an Stangen getragenen Tafeln der einzelnen Gruppen, Verband der Zimmerer', ãVerband der Maler', ãBau- arbeiterverband', ãMetallarbeiterverband" usw. (und auf ihren mitgef¸hrten Fahnen die charakteristischen Merkmale ihres jeweili- gen Berufes) sah, ergriff mich geradezu eine Begeisterung f¸r diese Malumz¸gler. Am liebsten w"re ich gleich mitmarschiert, um mich stolz den Neugierigen am Straþenrand als Mechaniker-Metallarbeiter' zu zeigen. Die ãRadaubr¸der' hatten meine ganze Sym- pathie gewonnen. Ich sah mir noch den sehr forschen Abmarsch mit Musik und Gesang von Kampfliedern an, wobei auf mich der Gesang: ãWer schafft das Gold zutage, wer h"mmert Erz und Stein?' den gr–þten Ein- druck machte. Nur das hier im Refrain immer wieder vorkommende Wort Proletariat' war mir fremd. Ich nahm mir vor, das noch genau zu erfahren, was das bedeute. Nun, in meinem sp"teren Leben habe ich es nur allzu genau kennengelernt. Aber o je! Ich hatte bei dieser Schau viel zuviel Zeit vers"umt. Schnell muþte ich meine Ware holen, um doch viel zu sp"t mit meinem Handwagen zur Werkstatt zur¸ck- zukommen. Groþes Geschimpfe vom Lehr- meister, mit gleich ein paar Wachteln' hinter die Ohren empfing er mich. ãDu Lausbub, bischt wohl bei de Raute gew"e?' schrie mich der Meister an. Der Trotz in mir und die erlebte Begeisterung f¸r den Acht- stundentag rissen mich zu der Ÿuþerung hin: ,Jo, da war i - die h"nt ganz r"cht.' Das trug mir eine richtige Tracht Pr¸gel und die w¸tende Ÿuþerung meines Meisters ein: ,An dir Lausbub ischt Hopfe und Malz ver- lore, du geischt (gibst) "mol en richtige Lumpa, en richtige Gewerkschafter, na.' Mit dem letzten Wort hatte er recht. Inner- lich war ich f¸r die Arbeiterbewegung und f¸r den 1. Mai gewonnen. Kaum ausgelernt, suchte ich die Adresse des Metallarbeiter- verbandes ausfindig zu machen undersuchte um meine Aufnahme in den Verband, dem ich heute noch angeh–re. Ich w¸nschte mir, daþ alle heutigen Maifeiern auf alle Jugend- lichen einen so starken Eindruck machen wie auf mich mein erstes 1.-Mai-Erlebnis. Im weiteren Verlauf meiner T"tigkeit in vielen Bezirken und Groþst"dten Deutsch- lands muþte ich bis 1914 die traurige Erfah- rung machen, daþ die vielen Widerst"nde die Durchf¸hrung der Maifeier sehr er- schwerten. Besonders schwierig war es in der Groþindustrie, wo die Unternehmer an- fingen, jeden Arbeiter, der den 1. Mai feierte, nicht nur zu entlassen, sondern auch auf die Schwarze Liste (eine an alle Unter- nehmer gesandte Namensliste zur Einstel- lungssperre) zu setzen. So kam es, daþ vielfach nur die organisierten Facharbeiter des Handwerks, vor allem die Bauarbeiter, den 1. Mai durch Arbeitsruhe feierten, w"h- rend sich die Arbeiter der Groþindustrie oft nur mit Abendfeiern des 1. Mai begn¸gen muþten. Ich wurde 1906 bei Krupp und 1907 in Berlin wegen Feierns des 1. Mai gemaþ- regelt. Doch ich war jung und habe mir nichts daraus gemacht. Andere Jahre war ich gerade am 1. Mai ãauf der Walze', und da war der 1. Mai dann immer ein Freu- dentag. Allen Widerst"nden hat der 1. Mai getrotzt und sich schlieþlich siegreich durchgesetzt. Heute feiern wir den 1. Mai nicht mehr als eine ãsozialdemokratische' Veranstaltung, sondern als Kampf- und Feiertag a 11 e r Teile des arbeitenden Volkes ohne Unter- schied der politischen und religi–sen Auf- fassung. So soll es sein. Alle Arbeitenden vereint am 1. Mai. Zeidinunaen Jos Herff 4 Vergesset nie, was unsere Toten wollten!' Er- innerungsblatt an die Chikagoer Maifeier 1886. Die Regierungen verschlieþen sich vor den Forderungen der Arbeiter wie die zarten Blumen, die man Sinnenpflanzen nenntl Georges Bernanos. 1
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