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Becher, Johannes Robert, 1891-1958. / Wir, Volk der Deutschen; Rede auf der 1. Bundeskonferenz des Kulturbundes zur Demokratischen Erneuerung Deutschlands (21 Mai 1947)
(1947)
II. Flucht und Verdrängung, pp. 12-34
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Aber es hiefle die Tiefenwirkung unserer Katastrophe unterschatzen, wurden wir annehmen, eine Metamor- phose des deutschen Menschen, ein solcher Wandlungs- prozefl, wie wir ihn fordern, konne sich reibungslos, ohne Widerspriiche und Ruckfa1le, im Verlaufe weniger Jahre vollziehen. Das ist ein.e Aufgabe von mindestens einem Jahrzehnt. Das ist eine Aufgabe, die sich zugleich auch mit dem Wandel von Generationen erfiillt, und die nicht mit uns endet, sondern die erst dort eigentlich von Grund auf beginnt, wo die ersten Schulen des Lebens ihren An- fang nehmen. Bleiben wir uns also immer dessen be.wuSt: Wir sind eine demokratische Erneuerungsbewegung und es sind Fragen von g.eschichtlicher Tragweite, moralische, seeli- sche Existenzfragen unseres Volkes, die uns gestellt wer- den und die wiir zu beantworten haben. Damit beantwortet sich zugleich die Frage von selbst, ob wir eine politische Bewegung seien. Es kann gar nicht anders sein, ob wir nun wollen oder nicht: wenn wir auch nur im geringsten verstehen, worum es bei einer demokra- tischen Erneuerung Deutschlands. geht, dann sind wir eine politische Bewegung, und wire ein politisch Lied ein garstig Lied, wie es heiflt, so mUflten wir das politische Lied zu einem hohen Liede machen. Wir entscheiden uns politisch, wenn wir zu den wichtigsten Lebensfragen unseres Volkes Stellung nehmen. Es ist polioisch gedacht, wenn wir ein neues Geschichtsbild fordern. Es ist Politik und nochmals Politik, wenn wir ein Wiederauferstehen unseres Volkes anstreben. ,,Denn heute ist alles Poilitik", sagt schon GottfrieId Keller, ,,und hangt mit ihr zusam- men, von dem Leder an unseren Schuhsohlen bis zum obersten Ziegel am Dach, und der Rauch, der aus den Schornsteinen steigt, ist Politik und hangt in verfaing- lichen Wolken uiber Hutten und Paldsten, treibt hin und her uiber Stadten und Dbrfern." Wir sind nicht ein Kulturbund, dem einzig und allein die Pflege der Kultur, der Kunst obliegt. Wir sind 22
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