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Becher, Johannes Robert, 1891-1958. / Wir, Volk der Deutschen; Rede auf der 1. Bundeskonferenz des Kulturbundes zur Demokratischen Erneuerung Deutschlands (21 Mai 1947)
(1947)
II. Flucht und Verdrängung, pp. 12-34
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Furcht und Hoffnung eins werden, sich einander wechlsel- seitig aufheben und in eine dunkle Fiihllosigkeeit ver- lieren." In dieser dunklen Fiihllosigkeit verharren Tau- sende, in einer geistig-seelischen He-imatlosigkeit und in einem uiber alle Schichten, Geschlechter und Generationen hinweg sich erstreckenden morali'schen Niemandsland, das nur schwer zuganglich ist fur politische Uber- legungen und menschliche Uberzeugungskraft. Wo aber so hemmungslos verdrangt wird, wo das Ge- dichtnis schwindet und das Erinnerungsvermogen aufhort, kann kein Gewissen scin - das menschliche Leben selbst h6rt auf zu bestehen und wird zu einem Dahinvegetieren in Gewissenlosigkeit und stumpfer Angst. Und es besteht die Gefahr, da13 das Verdringte eines Tages, vielleicht aus irgendeinem zufallligen Anlafl, hervorbrechen und uns zu einem neuen Verhangnis werden wird. Tiefe Gemutswunden sind geschlagen. Die Szene spricht fur sich: Ein weiter geraumiger Saal, lichterfullt, strahit in das Ruinendunkel hinalus. Und dort in dem Ruinenschatten stehen unbewegt Hunderte von Fluchtlingen und Heimkehrern, fur die in diesem lichterfUllten Saal ein Konzert veranstaltet werden soll. Aber sie treten nicht aus dem Schatten der Ruinen her- vor, sie warten. In ihren zerschlisse-nen Kleidern warten sie, bis das uberhelle Licht gedimpft wird, sie schamen sich, in der B16fe ihrer Not, in ihrer zerschlissenen Nackt- heit, sich voreinander zu zeigen. Und dann erst, als der Saal halbverdunkelt ist, treten sie ein und nehmen Platz. Und bei dem Adagio hort man im Halbdunkel das Weinen ... Wo ein Verlust Millionen Tote betragt, und wo Tau- sende und aber Tausende in Panzerschlachten und im Granatwerferfeuer, in der Eissteppe und im Wiistenbrand, in Vernichtungslagern und im Bombenhagel das Sterben Tausender und aberTausender miterlebt haben, da scheint der Wert des einzelnen Menschenlebens aus jeder morali- schen Berechnung geschwunden zu sein. Jahrhunlderte, weltenweit, scheinen wir uns entfernt zu haben von der I9
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