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Becher, Johannes Robert, 1891-1958. / Wir, Volk der Deutschen; Rede auf der 1. Bundeskonferenz des Kulturbundes zur Demokratischen Erneuerung Deutschlands (21 Mai 1947)
(1947)
I. Vom Gewinn der Niederlage, pp. 9-12
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einem neuen, anderen Volke wird und in einer gewandel- ten Lebensform wiederaufersteht. Dem Zutsammenbruch im zweiten Weltkrieg, dieser gr6ften Katastrophe unserer Geschichte, den wahren Sinn zu geben und unser Volk zu einem neuen, lebensfahigen Volke auferstehen zu lassen, das war es, was uns so leiden- schaftlich, und ich darf wohl auch sagen: so begei~stert be- wegt hat, den ,,Kulturbund zur demokratischen Erneue- rung Deutschlands" ins Leben zu rufen. Wir hatten er- kannt, da3 die unheilvollen Ereignislse, wie sie mit dem Jahr 1933 einsetzten, keineswegs zufallige waren oder nur eine krankhafte Episode in unserem geschichtlichen Leben darstellten, die von selbst ausheilen wurde, wenn die pro- minenten Krankheitstrager entfernt waren. Der Krank- heitsherd,. der dieses ungeheuerliche Geschwur empor- wuchern lief, lag tiefer. Die deutsche Katastrophe wurde im Verlaufe unserer Geschichte auf einem langwierigen, komplizierten Wege vorbereitet, bis sie in jenes akute, barbarische Stadium eintrat, und somit schien es uns not- wendig, nicht nur das lbel als solches, sondern es auch in allen seinen weitlaufigen Verwurzelungen zu erfassen und zu beseitigen. In dem hochdramati-schen Ablauf der deutschen Trago die war im Zusammenbruch der Moment des Erkennens gegeben und damit auch der Peripetie, eines echten Umschlags, einer elementaren Volksumstimmung, eines radikalen Bruchs mit unserer gesamten falschen Ver- gangenheit. Wir waren uns im klaren dariiber, daf wir uiber alles Veraltete und Konventionelle hinweg uns viel- leicht auch loszusagen hatten von vielem, was uns als selbstverstandlich und als Tradition in Fleisch und Blut eingegangen war. Die Katastrophe unseres Volkes aber ist zu allgewaltig, als daf3 wir auf Vorstellungen, in denen wir grofggezogen wurden, Riicksicht nehmen durften. ,,Bei dem gr6flten Verlust", sagt Goethe, ,,miissen wir uns zugle-ich umschauen, was uns zu erhalten und zu leisten iibrigbleibt." Bei allem Zerschmetternden und Nieder- druckenden iibt so der Verlust doch auch einen heilsamen Zwang aus, indem wir, vor die Frage gestellt ,,Sein oder IO
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