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Drews, Richard; Kantorowicz, Alfred, 1899- (ed.) / Verboten and verbrannt, deutsche Literatur 12 Jahre unterdrückt
([1947])
Joe Lederer, pp. 103-104
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Rudolf Leonhard, pp. 104-105
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verstehen Sle mich, dlese Bildung, die uns nur Pine h6here Schule geben kann, ist ein Schatz fMrs Leben! Kein Opfer ist zu groB." Das Fraulein schwieg erbittert und dachte an seine eigenen Hungerjahre, an das Seminar. Aber jetzt war sie staatlich angestellte Lehrerin. ,,Ich konnte Ihnen Beispiele nennen, ich konnte Ihnen von gewissen Menschen erzahlen, die alles, aber auch alles fUr die Wissenschaft getan haben!" Die Lehrerin stand auf und reckte den eingesunkenen Brustkasten. ,,Sie haben gewiB recht", antwortete Marie ergeben. ,,Aber wenn es eben nicht moglich ist . Ich bin flinen sehr dankbar, aber Sie mUssen ent- schuldfgen..." Sie verabschiedete sich. Aus der Tur rief ihr die Lehrerln noch nach: ,,Sie haben Verpflichtungen! Bedenken Sie es, tiberlegen Ste es - andern Sie Ihre Meinung!" Sie war erschopft als Marie fort war, aber mit sich zu- frieden. ,,Wie sie sich geziert hat!" dachte Marie. ,,Verdreht ist sie, das ist alles. Und macht George,. auch noch verr~ickt. Aber schlieBlich bin ich noch da!" Sie sah sich noch einmal kopfschuittelnd nach dem Schulgebaude um, dann ging sie heim, mit den schbnen, gleichmaBigen Schritten der Bauernfrau. RUDOLF LEONHARD 1889 in Lissa geboren, lebte lange In Ber- lin und arbeitete im ersten Weitkrieg ala Anhdnger Karl Liebknechts fUr den Frie- den (Demonstrationen, illegale Pamphlete usw.). Aphorismen-Sammlungen: ,,Alles und ntchts". ,Xonen des Fegefeuers"; Roman: ,Beate und der grol3e Pan"; Schauspiel: ,Segel am Horizont"; Sonett- sammlung: ,Das nackte Leben". Seit 1927 in Frankreich lebend, wurde er von den Nazis ausgebtirgert; erA war Prdsident der Pariser Gruppe des Schfitzverbandes deut- scher Schriftsteller im Exil. Wahrend des Krieges wurde er verhaftet, kam in ein tranzosisches Internierungslager, wurde sber von Partisanen befreit und vor dem Tode gerettet. Imn Exil schrieb er sein Stick .Geiseln", das im Dezember 1946 in Berlin aufgeftlhrt wurde. Aulerdem entstanden in der Emigration u. a. ein Schauspiel ,,Ftihrer & Cie." und die ge- sammelten Erzahlungen ,Der Tod des Don Quichote". Ktirzlich erschien in Paris sein ,,Plaidoyer pour la democratie alle- mande". Seine APHORISMEN bergen, wie seine Schrift .,Das Wort". eine FUlle kluger Beobachtungen; sie zeichnen sich durch besondere polemische Frische aus: Der militaristische Staat, der die Sauglingssterblichkelt bekampft, han- delt erbarmungslos selbstsuichtig, wie die Gesellschaft es immer ist, etwa nach dem Gebot: der Mensch darf nicht vor Erreichung des militarpflich- tigen Alters getotet werden. Empdrend bet einem Befehlsverhaltnis 1st nicht das Kommando, abet der Gehorsam. * Auch Grol3e verwechselt sich, auch Zeit erleidet das Geschick des Wesens, auch Katastrophen verflachen; und unter den Kriegen trifft es die monstrosen wie die alltaglichen gleichmaJ3ig, dalB sie des Sieges wegen begonnen, des Krieges wegen gefuhrt und des Friedens wegen beendigt wei den. * 104
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