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Drews, Richard; Kantorowicz, Alfred, 1899- (ed.) / Verboten and verbrannt, deutsche Literatur 12 Jahre unterdrückt
([1947])
Irmgard Keun, p. 94
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Egon Erwin Kisch, pp. 94-95
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Page 94
IRllIGARD KEUN Wurde vor 1933 bekannt durch verschie- dene, mit frischem Temperament ge- sciiriebene Romane (u. a. ,,Gilgi, eine von uns", ,Das kunstseidene Madchen"). Die Autorin emnigrierte 1935 und ist vor eini- ger Zeit aus dem Exil nach Deutschland zurUckgekehrt. Im Exil schrieb sie u. a. ,.Bilder und Gedichte aus der Emigra- tion" und den Roman ,,D-Zug 3. Klasse" (Epoche-Verlag, K61n) sowie den Band: ,,DAS MXDCHEN, MIT DEM DIE KIN- DER NICHT VERKEHREN DURFTEN" (im Verlag Allert de Lange, Amsterdam); ihrn entnehmen wir diesen Abschnitt: ' Wir versprachen, auf jeden Fall gesitteter zu werden, und lieBen Professor Lachs erzieherisch auf uns einwirken. Er haut namlich fast nie und wirkt erzieherisch auf Kinder eli indem er lhnen aus der Zeitung vorliest - und das ist bestimmt auch viel besser und erzieherischer fUr ein Kind. Professor Lachs las vor aus der Verbrecherchronik, und daB die gesamte Polizei hinter einem Fassadenkletterer her ist, bald werden sie ihn haben. Dieser Fassadenkletterer war von jeher ungezaigelt und wurde dann zu einem Schadling und Verbrecher. Er spielt mit seinem Leben und schwingt sich Uiber Dacher, und kein Haus ist Ihm zu hoch, keine Wand zu glatt und zu steil. Professor Lachs hatte gelesen mit einer Stimme wie ein ernstes mahnendes Gewitter und sah uns an. Alle sahen uns an und nickten mit dem Kopf. Wir nickten auch, und da seufzten sie alle und tranken Bowle. Wir haben ein einsames llaus am Stadtwald entdeckt - Hanschen Lachs, Ottchen Weber und ich. Da splelen wir jetzt jeden Tag Fassadenkletterer-, es ist herrlich, wir hatten lange nicht mehr so ein sch6nes Sp'lel. Neulich sind Ottchen Weber und ich die Dachrinne hochgeklettert und schon fast bis zur dritten Etage gekommen, und Hanschen Lachs ist gestern aus dem Fenster vom Hochparterre gefallen, dabel ist dummerweise seine Hose kaputt gegangen. EGON ERWIN KISCH 1885 geboren, Prager wie Max Brod und Franz Kafka, vertffentlichte vor 1933 eine Reihe von aufsehenerregenden Re- portagen, die ihm nach dem Titel eines seiner Bicher den Beinamen des .,Ra- senden Reporters" elntrugen. 1936 er. schienen, seine Reiseeindracke aber RuB- land, Erlebnisberichte aus dem spanischen Btrgerkrieg: ,,Soldaten am Meeresstrand" und ,,Die drel Ktihe". Spiter ging Kisch nach Frankreich, wurde ausgewiesen und kam nach 1Mexiko, wo er im Jahre 1946, geehrt durch eine Festnummer der Zeit- schrift ,,Freies Deutschland", semien 6u. Geburtstag feierte. In Mexiko ent- standen seine neuen BEaher: ,,Entdeckun- gen in Mexiko", ,,Marktplatz der Sensa- tionen". ,,Abenteuer in fMnf Kositinenten' und ,,Geschichten aus sieben Ghettos". Kisch schrieb seine Reportagen nicht aus SensationsliAsternheit; er dient, im Geist einer freien mensehlichen Gesinnung, der Zeit und der Zukunft. Er lebt jetzt wieder In Prag. -Hier eine,,KURZREPORTAGE"; Das Haus 558 De Koven Street steht auf lokalgeschichtllchem Boden. Am 18. Oktober 1871, eines Sonntags um neun tThr abends, ging die damalige Besitzerin des Hauses, Mrs. O'Leary, In den Stall, da eine bei ihren Unter- mietern versammelte Geburtstagsgesellschaft Milch brauchte. Die Kuh, wohl wUtend daruber, noch zu nachtschlafender Zeit ausgentitzt zu werden, ver- setzte der neben sie hingestellten Petroleumlampe einen Fultritt, und im Nu brannte der ganze Stall. Schreiend rannte Mrs. O'Leary auf die Stralae, bevor jedoch Hilfe kam, hatte der Wind die Flammen auf die Dachstuhle
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