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Lüthi, Walter, 1901- / Deutschland zwischen gestern und morgen: ein Reisebericht.
([1947])
Der Klagegeist, pp. 67-71
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menschlich, in Wirklichkeit aber ist es unbarmherzig, weil es nicht hilft. Wenn man aber genau hinhoirt, dann hat die Stimme die- ses Klagegeistes immer noch einen Unterton. Dieser pflegt mehr oder weniger deutlich bemerkbar zu sein. Und dieser Unterton ist nicht bloB Klage, sondern Anklage. Das ist das eigentlich Gefahrliche am Klagegeist, daB er fast immer zu- gleich ein Anklagegeist ist. Man finadet dafuir nur biblische Beispiele. Es ist wohl das, was dort in der Wuiste uiber das Volk Israel kam, als es anfing zu murren. Das Murren ist ein Anklagen. Irgend jemand klagt man an, gewohnlich ist's ge- rade der Nachste, der Erstbeste, der einen bedringt, im vor- liegenden Fall natiirlich die Besetzungsmacht oder das Aus- land. Dieser Anklagegeist macht blind. Er hischt das Ge- dachtnis aus, schwacht den Sinn fur Proportionen und raubt die Fihigkeit, die gegenwartigen Ereignisse in den groBen Zusammenhangen zu sehen. Man sieht dann zum Beispiel nicht mehr den Anteil, den die Vergangenheit an der gegen- wartigen Misere hat. Man verliert dann auch die Zeitbegriffe. Daher die seltsame Art, wie man etwa das Wort <frfiher>> ausspricht. Erzieher k6nnen, wie wir sahen, nun uiber die Verrohung der Jugend klagen, immer mit dem Nachsatz, <fruiher>> sei das anders, <friiher>> sei das besiser gewesen. Und mit <(fruher>> meinen sie einfach alles, was vor dem jetzigen, vor dem momentanen Zustand war. Nicht, daB die Anklagen materiell etwa nicht begriindet waren. Das Murren des Vol- kes Israel zur Zeit der Wfistenwanderung war wahrhaftig materiell auch begruindet. Aber auch hier gibt es nur eine M6glichkeit fur den Auslander: Widerstand. Der Geist der Anklage mochte einen namlich brauchen, als Sprachrohr soll man ihm dienen, etwa in dem Sinne: <<Sagen Sie es doch nur im Ausland, wie schlecht es uns geht, wie ungerecht wir be- handelt werden und wie schlimm unsere Bedingungen sind.>> 69
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