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Aufwärts
Jahrgang 19, Nr. 1 (January 15, 1966)
Déry, Tibor
Solange wir leben, pp. 6-7
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~Und auch mein Sohn?" fragte B. Sie verstand ihn. ~Er ist gesund", sagte sie. <Kerngesund, es fehlt ihm nichts. Er ist ein braver, hübscher, großer Junge geworden. Du lieber Himmel!" 8. schwieg. <Kommen Sie doch bitte herein", sagte sie mit bebender Stimme. <Kommen Sie doch! Ich wußte ja, daß Sie unschuldig waren. Ich wußte, daß Sie ein- mal noch zurückkommen werden." ~Niemand hat die Tür aufgemacht", sagte B. ~Obwohl ich dreimal geschellt habe." <Kommen Sie zu uns herein!" wiederholte sie. <Bei Ihnen ist keiner zu Hause. Auch die Untermieter sind fort." B. schwieg und schaute zu Boden. ~Ihre Frau geht arbeiten, und der Gyurika ist noch in der Schule. Treten Sie doch näher! Die kommen erst am Nachmittag wieder!" <Wohnen auch Untermieter bei uns?" fragte B. <Es sind anständige Leute. Ihre Frau kommt gut mit ihnen aus. Du lieber Him- mel, Sie sind also wieder da!" B. schwieg. <Ich habe einen Schlüssel zur Woh- nung", sagte die Frau nach einiger Zeit. <Sie können hinaufgehen und sich aus- ruhen, bevor Ihre Frau kommt. Ich zeige Ihnen das Zimmer, in dem Ihre Frau wohnt." ~In welchem Zimmer wohnt sie?" fragte B. <Wissen Sie, die Untermieter sind zu viert", erklärte sie. <Sie haben die beiden Zimmer zugewiesen bekommen, Ihre Frau ist mit Gyurika in das Dienstmäd- chenzimmer gezogen. Aber die Küche und das Bad werden gemeinsam be- nutzt." <Die Küche und das Bad gemeinsam?" fragte B. ~Ja, freilich", sagte die Hausmeisters- frau. <Dann habe ich auch das Recht, ein Bad zu nehmen?" <Natürlich", sagte sie und lächelte. Sie faßte B. am Ellenbogen, als wollte sie ihn stützen. <Natürlich haben Sie das Recht dazu, wieso auch nicht? Die Wohnung gehört auch Ihnen, und Küche und Bad sind, wie gesagt, gemeinsam." Das Fenster der kleinen Dienstmädchen- kammer lag, wie üblich, nach Norden. Vor dem Fenster stand eine Eberesche. Die Stube dämmerte grünlich im Schat- ten der Esche. Sobald B. allein war und sein Atem ruhiger ging, erkannte er den Duft seiner Frau wieder. Er setzte sich ans Fenster und holte tief Atem. Er be- trachtete die Laubkrone der Esche. Sein ganzer Körper hüllte sich in den Duft sei- ner Frau und atmete ihn ein und aus. Als er sich mit dem Duft seiner Frau voll- gesogen hatte und ihn nicht mehr empfand, ging er auf die Straße und war- tete vor der Gartentür. Nach einer Weile bog seine Frau, von vier oder fünf Kindern begleitet, um die Ecke. Als sie etwas nä- her gekommen war, wurden ihre Schritte langsamer. Für einen Augenblick blieb sie sogar stehen, dann lief sie auf ihn zu. Auch B. lief schon, ohne es zu merken. Als die Entfernung nicht mehr groß war, stockte sie plötzlich, als wäre sie ihrer Sache nicht sicher, dann rannte sie wie- der los. B. erkannte den grauen, schwarz- gestreiften Wollpullover mit den langen Ärmeln, den er ihr unmittelbar vor der Verhaftung in einem guten Modege- schäft gekauft hatte. Seine Frau war eine besondere, wunderbare Mischung aus Luft und Fleisch, einzig in ihrer Art. Sie übertraf all die Erinnerungen an'sie, die er im Gefängnis sieben Jahre lang ge- sammelt und gehütet hatte. Als sie sich aus der Umarmung gelöst hatten, lehnte B. sich gegen den Garten- zaun. Einige Schritte hinter seiner Frau standen die vier oder fünf Jungen mit neugierigen und etwas befremdeten Ge- sichtern. Sie mochten etwa sieben Jahre alt sein. Es waren doch keine fünf, bloß vier. B. betrachtete, gegen den Zaun ge- lehnt, den einen nach dem anderen mit prüfenden Blicken. <Welcher ist der meine?" fragte er. Erst jetzt brach sie in Tränen aus. <Laß uns hinaufgehen", schluchzte sie. B. legte ihr den Arm um die Schultern. <Weine nicht!" <Gehen wir hinauf!" wiederholte sie mit lautem Schluchzen. <Weine nicht!" sagte B. <Welcher ist der meine?" Sie stieß die Gartentür auf, lief auf das Haus zu und verschwand im Torweg zwischen den weißen Fliederdolden. Sie war noch ebenso schlank wie früher und lief mit den langen, gehetzten Schritten wie damals, als sie, noch ein junges Mädchen, vor einer Kuh Reißaus genom- men hatte. Sie schien von wilder, un- zähmbarer Angst getrieben. Als B. sie jedoch vor der Wohnungstür einholte, hatte sie sich schon beruhigt. Nur noch ihre Brust hob und senkte sich unter dem schwarzgestreiften Pullover. Sie hatte aufgehört zu weinen, aber unter ihren Augen sah man die Spuren hastig fort- gewischter Tränen. <Mein Einziger!" flüsterte sie. <Mein Einziger?" Sie konnte so flüstern, daß es einen ver- langte, ihre Worte in den Mund zu neh- men, jedes Wort gesondert. <Laß uns hineingehen", sagte B. <Hier wohnen jetzt auch andere Leute." ~Ich weiß", sagte B. <Laß uns hineinge- hen!" <Warst du schon drinnen?" <Ja", sagte B. <Welcher war mein Sohn?" Sie kniete im Zimmer vor ihm nieder, senkte den Kopf auf seinen Schoß und weinte. Einige weiße Haare schimmerten mit fremdem Glanz in ihren dunkelblon- den Strähnen. <Mein Einziger", sagte sie. <Ich habe auf dich gewartet. Mein Einzi- ger." B. streichelte ihr die Haare. <Hast du es schwer gehabt?" <Mein Einziger", flüsterte sie. B. streichelte ihr noch immer die Haare. <Bin ich sehr alt geworden?" Sie um- schlang seine Knie und drückte sie an sich. <Für mich bist du der gleiche, von dem ich mich damals trennen mußte." <Bin ich sehr alt geworden?" fragte B. <Solange ich lebe, werde ich dich lie- ben", flüsterte sie. Ihr Rücken bebte, sie weinte laut. B. nahm die Hand von ihrem Kopf. <Wirst du dich an mich gewöhnen können?" ~ich habe nie einen anderen geliebt", sagte sie. <Ich liebe dich." <Hast du auf mich gewartet?" ~Ich war immer bei dir", sagte sie. <Es verging kein Tag, an dem ich nicht an dich dachte. Ich wußte, daß du zurück- kommst. Und wenn du nicht gekommen wärest, dann wäre ich allein gestorben. Auch in deinem Sohn habe ich dich ge- funden." ~Liebst du mich?" fragte B. <Ich habe nie einen anderen geliebt", sagte sie. <Wie du dich auch verändert hättest, ich würde dich lieben." <Ich habe mich verändert", sagte B. <Ich bin alt geworden." Sie weinte. B. fuhr ihr wieder mit leichter Hand über den Kopf. <Können wir noch Kinder haben?" fragte sie. <Vielleicht", sagte er. <Wenn du mich liebst. Steh auf!" Sie stand auf. ~Soll ich ihn rufen?" <Noch nicht", sagte er. ~Ich möchte ein wenig mit dir allein sein. Er ist mir noch fremd. Ist er im Garten geblieben?" <Ich laufe schnell hinunter", sagte sie. <Und sage ihm, er soll warten." Als sie wieder eintrat, stand B. am Fen- ster, den Rücken dem Zimmer zuge- wandt. Sein Rücken schien schmal und schief geworden. Er drehte sich nicht um. Sie blieb einen Augenblick in der Tür stehen. <Ich habe ihm gesagt, er soll Blu- men für seinen Vater pflücken." Ihre Stimme klang heiser vor Erregung. <Nebenan auf dem Grundstück blüht jetzt der Flieder. Er soll einen großen Strauß für seinen Vater pflücken." <Liebst du mich?" fragte B. Sie lief auf ihn zu, schlang die Arme um seine Schultern und schmiegte sich mit dem ganzen Körper an Ihn. <Mein Ein- ziger", flüsterte sie. <Wirst du dich an mich gewöhnen kön- nen?" fragte er. ~Ich habe nie einen anderen geliebt", sagte sie. ~Ich war Tag und Nacht bei dir. Auch deinem Sohn erzählte ich jeden Tag von seinem Vater." B. drehte sich um und umarmte sie. Er betrachtete aufmerksam ihr Gesicht. Im Dämmerlicht des Abends, das durch das offene Fenster fiel, sah er mit Erleichte- rung, daß auch dieses Gesicht gealtert war. Dennoch war es schöner als das Bild, das er sieben Jahre lang Tag für Tag heraufbeschworen hatte. Die Augen waren geschlossen, die Lippen öffneten sich ein wenig, der heiße Atem drang zwischen den schimmernden Zähnen bis an seinen Mund. Unter den dichten Wim- pern, die auf der blassen Haut ruhten, lag ein feuchter Glanz. Das Gesicht war die reine Hingabe. B. küßte ihre Augen, dann schob er sie sanft von sich. <Du mußt auch unseren Jungen liebha- ben !< flüsterte sie noch mit geschlosse- nen Augen. ~Ja", sagte B., <ich werde ihn lieben." <Er ist dein Sohn !" <Und deiner", sagte B. Sie umschlang seinen Hals. <Wirst du dich wieder an mich gewöh- nen?" fragte er. <Mein Einziger", sagte sie. <Schläfst du heute nacht bei mir?" <Ja", sagte sie. <Und wo wird er schlafen?" <Ich bette ihn auf den Fußboden", sagte sie. <Er hat einen sehr tiefen Schlaf." ~Bleibst du die ganze Nacht bei mir?" ~Ja", sagte sie. <Alle Nächte, solange wir leben."
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