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Aufwärts
Jahrgang 16, Nr. 10 (October 15, 1963)
Es kommt uns auf den Frieden an, p. 5
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5ie ist jung - und das ist schön P.olf-Dietrich Schnurre ... Kurz vor dem Fußballspiel Westdeutschland gegen Afrika ... und seine Zuhörer Es kommt uns auf den Frieden an as 2. Bundesjugendtreffen ging zu Ende.Die jungen Kolleginnen und Kol- egen hatten sich noch einmal in der gro- Gen und heilen Odenwaldhale versam- melt, an deren Rückseite die Mahnung zu lesen war ~Jung sein für den Fortschritt - Leben für den Frieden". Der Jugendsachbearbeiter leitete diese letzte Veranstaltung mit den Worten ein: ~Die Abschlußkundgebung soll nach dem Willen des .ewerkschaftsjugendausschus- ses dem 2. NGG-Bundesjugendtreffen politische Akzente setzen. Dazu wollten wir als eine moderne Gewerkschaft etwas Besonderes bieten und den Versuch wa- gen, eine Analyse unserer Zat zu gebea. In diesem Sinne haben wir uns umgesehen und an Wolf-Dietrich Schnurre gewandt -". Der bekannte Berliner Schriftsteller er- fällte die in ihn gesetzten Erwartungen voll- auf. In geschliffen Formulierungen ana- lysierte er Vergangenheit und Gegenwart Seinem Gewissen folgend scheute er sich nicht, hart zu urteilen, wo es ihm nötig schien. Bitter begann er mit der Tatsache, daß 18 Jahre nach Beendigung des Hftle- krieges Deutschland nicht nur wieder- bewaffnet, sondern darüber hinaus durch zwei sich feindlich gegenüberstehende Armeen aufgerüstet ist, durch Stachel- drahtverhaue und kriegsmäßig angelegte Minenfelder bis zum Verbluten ausein- andergerissen. In dem einen Teil die Be- völkereng der Diktatur eines unverbesser- lichen Altstalinisten ausgeliefert, im ande- ren, unter zwar besseren demokratischen Bedingungen lebend, gleichgültig und vergeßlich geworden. Woff-Dietrich Schnurre zerfetzte dann die deutsche Außenpolitik, die es versäumte, echte Beweise eines Willens zur Versöh- nung mit Polen, Rußland und Israel zu geben. Was in Deutschland fehlt, ist eine ehrliche Auseinandersetzung mit der Vergangen- heit. Die Korrumpierung des politischen Bewußtseins begann in den ersten Mo- naten des Jahres 1933. <Die Verbrecher- physiegnomie des Nationalsozialismus war von Anfang an klar zu erkennen. Wer das heute leugnet, hat Grund." Oft von stürmischer Zustimmung unter- brochen, schilderte der Redner dann die Schatten dieser Vergangenheit, die bis in die heutige Politik reichen. Erschreckend milde Urteile gegen nazistische Massen- mörder sind ein Beispiel dafür. Haben die .kleinen" Nazis, die Mitläufer, INS sich wirklich zu überzeugten Demokraten ge- wandelt? Wolf-Dietrich Schnurre bezwei- felte das und gab den Zuhörern den Rat, doch ihre nächste Umgebung zu prüfen und die Bekannten zu fragen, ob es nicht auch eine andere Möglichkeit gegeben hätte, als den offenkundigen Schandtaten der Nazis zuzustimmen oder sie zu über- sehen. Noch heute hat eine Meinungs- umfrage ein erschreckendes Man von Antisemitismus im deutschen Volke zu- tage gebracht. Deshalb ruht die Vergan- genheit nicht. Deshalb können wir sie auch nicht ~bewältigen". Wir müssen uns ihr stellen. ~Bewußt soll sie uns werden; be- troffen soll sie uns machen; aufnehmen müssen wir sie und ihr das Recht ein- räumen, Einfluß auf unser Leben zu neh- men und es ändern zu wollen." Als ersten Schritt dazu forderte der Red- ner die Beschäftigung mit und Kenntnis- nahme von den kaum vorstellbaren nazi- stischen Untaten. ~Wie alt waren die jüdi- schen Kinder, die 1944 an der Hand Ihrer Mütter in die Gaskammem gingen? Nicht vielfach eben so alt, wie Sie damals wa- ren? Bedenken Sie, wie jung diese Ver- gangenheit ist; sie ist gleichaltrig mit vielen von Ihnen. Wie dürfen Sie dann von ihr sagen, sie ginge einen nichts an? Sie ist der Raum, in dem wir, die Zukunft im Herzen, mit unserer Gegenwart leben." Ein anderer Aspekt, der uns nicht minder belastet, ist der Krieg. Der Redner billigte den deutschen Soldaten Opferbereitschaft und Mut zu, den Glauben, nicht für Hitier, sondern für Deutschland das Leben in die Schanze zu schlagen. Um so verheerender war der deutsche Militarismus; die Bereit- schaft der deutschen militärischen Füh- rnmg, Hitier widerspruchslos in seinen ver- brecherischen AngriffskrIeg zu folgen. Dieser Militarismus hat uns heute sco wieder in neuen Bürgerkrieg geführt, denn werden an der Berliner Mauer nicht Bürger von Uniformierten erschossen? ~Wann wird in Deutschland wohl einmal, statt an die sogenannte Pflicht: 41 für das christliche Abendland, dort für die sozia- listischen Errungenschaften zu kämpfen, an nichts als an die Pflicht zur Friedfertig- keit appelliert?" Anstelle die Politik der Rüstung weiter zu treiben, in der die Spaltung Deutschlands nur vertieft wird, verlangte Schnurre eine Politik vom Standpunkt der Einsichtigkeit und nicht vom Standpunkt angemaßten oder ausgeliehenen Machtanspruchs her. Wir können jetzt nur wenig für die Wieder- vereinigung tun. ~Und doch: Würde es wirklich getan, noch immer genug." Unser Ziel muß es sein, das Leben der Menschen drüben zu erleichtern. Etwa durch folgende Änderungen: Aufhebung der Briefzensur, Lockerung der Reisebeschränkung, Durch- lässigmachen der Mauer. Wir brauchen dazu Rückendeckung, des- halb Aufgeben der Hallsteindoktrin und diplomatische Beziehungen zu Polen. Wir sollten Chruschtschow mit seinen eigenen Argumenten klarmachen, wie Ulbrichts Schießbfehl die Idee des So- zialismus durchlöchert. Am Schluß seiner Rede bekannte sich Wolf-Dietrich Schnur- re zur Wiedervereinigung durch Verhand- lungen. ~Oder will man keime Verhand- lungen führen ? Dann darf man folgerichtig auch nicht mehr von Wiedervereinigung reden. Denn wie will man vereinigen, ohne Verhandeln? Das hat Hitler bewiesen: mit Krieg. Diesmal aber sollte es uns doch wohl auf den Frieden ankommen."
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