Page View
Aufwärts
Jahrgang 15, Nr. 9 (September 15, 1962)
H. P.
Filmsplitter, p. 21
Plück, Hans
Bitterer Honig, p. 21
Page 21
Anekdote Hannes Messemer gibt gern eine Geschichte zum besten, die ihm während den Dreharbei- ten zu ~Nachts, wenn der Teufel kam" pas- slerte. Drehrelf geschminkt und in der Uniform eines SS-Standartenführers fuhr er in seinem offenen Wagen mit dem Kennzeichen 80 (Bochum) vom Atelier zum Ort der AußenaUf- nahmen. Unterwegs an einer Kreuzung mußte er anhalten. Neben seinem Wagen stand ein älteres Ehepaar. Die Frau sah Messemers SS- Uniform, erbleichte und drückte sich ein wenig fester an ihre bessere Hälfte. Der Mann tät- schelte seiner Frau beruhigend den Arm, wies auf das Nummernschild und meinte trocken: ,,Bonnl" Raffinierte Methoden auf dem Lande Auf einen psychologisch interessanten Trick verfiel man in China, wo Filmbesucher in man- chen Städten auf dem Land einfach nicht dazu zu bewegen sind, Eintrittsgeld für einen Film zu bezahlen, dessen Qualitäten sie noch nicht kennen. Die Leute werden in den betreffenden Städten vielfach unentgeltlich eingelassen. Der Film springt dann später an einer beson- ders spannenden Stelle abrupt ab. Es wird für eine kurze Zeit hell, und man kassiert Eintritts- geld. Wer nicht zahlen will, muß dann das Kino sofort verlassen. Scharfe Kritik Wegen mangelnder Steuerung der Filmpro- duktion wandte sich die ,Prawda" mit schar- fen Worten gegen das russische Kulturmini- sterium. Das Blatt warf dem von Frau Furzewa gelei- teten Ministerium vor, es habe seine Führungs- rolle bei Beeinflussung der Thematik, der künstlerischen Qualitäten und der ideologi- schen Richtung ebenso vernachlässigt wie die Erziehungsarbeiten unter Filmschaffenden. Nur selten noch würde in einem neuen Film der Typ des heldenhaft-überzeugten Genos- sen vorgestellt. Die ,Prawda", die eine Ver- hinderung des Anlaufens ideologisch schwa- cher Streifen forderte, ermahnte die sowjeti- schen Filmemacher schließlich zum Kampf gegen westliche Ideologie, Faulheit, Disziplin- losigkeit bei der Arbeit und dergleichen mehr. Interessant, nun einmal abzuwarten, wie Mini- sterin Furzewa darauf reagiert. H.P. zur See Foto: Europa Bitterer Honig Europa-Filmverleih W enn der auch in sommerlicher Flautezeit dem Film treugebliebene Kinogänger, der mit einem lachenden und einem weinenden Auge Lückenbüßer wie ~Das schwarze Mon- okel", <Vor Salonlöwen wird gewarnt" und der- gleichen mehr durchstand und sich schließ- lich noch wacker durch das halbgare Boccac- cio-70-Potpourri gegähnt hat, auf den eng- lischen Film <Bitterer Honig" stieß, mag er sich zunächst einmal verdutzt die Augen ge- rieben haben. Sollte es möglich sein? In einer Zeit überwie- gend filmischer Plattheiten solches, das mit zum Besten, Subtilsten und bei aller Offenheit zugleich Geschmackvollsten gehört, was er in den letzten Jahren über die Leinwand flimmern sah?! Nun, hätte er gewußt, daß Regisseur Tony Richardson zu jener Gruppe junger englischer Künstler gehört, die sich Free-Cinema nennt und schon eine Reihe Filme bester englischer Schule hervorgebracht hat (The Entertainer, Der Weg nach oben, Zorniges Schweigen, Samstagnacht bis Sonntagmorgen - um nur einige aufzuzählen), die Wirkung wäre, wenn- gleich ebenso stark, weniger überraschend gewesen. Das heranwachsende Mädchen Jo haust mit seiner Mutter, einer ausgelebten Dirne zu- sammen. Auf Grund überfälliger und nicht zu bezahlender Miete wird oft und heimlich die Bude gewechselt. Und während Mama wieder einmal auf den Strich geht, der das Geld be- deutet, sucht Jo woanders Liebe, Verständnis und ein wenig Glück: in den Armen eines dunkelhäutigen Schiffkochs. Doch das Glück dauert nur wenige Stunden, und danach for- dert es seinen hohen Tribut. Der Geliebte ist wieder auf hoher See, kehrt vielleicht nie zu- rück, und Jo, die sich mittlerweile von ihrer Mutter getrennt hat, entdeckt ihre Schwanger- schaft. Der homosexuelle Junge Geoffrey, mit dem sie zusammen wohnt, sorgt sich rührend um sie, Jn fast ungetrübter Kameradschaft zu Geoffrey verlebt Jo erstmals in ihrem Leben einige Tage bescheidenen Glücks, lernt sie spüren, was es heißt, geborgen zu sein. Dann aber fällt die Mutter in diese Idylle ein, das vielzitierte Beispiel des Elefanten im Por- zellanladen. Der jüngere Liebhaber, um des- sentwillen sie ihr Kind im Stich gelassen, ist ihrer überdrüssig geworden. Geoffrey möchte sich nicht zwischen Mutter und Kind stellen und geht, läßt Jo mit ihrer Erziehungsberech- tigten zurück. Und alles läuft wieder ab wie zuvor... Nie ganz ohne dichterischen Abstand verfolgt der Film, ausgestattet mit einem hochent- wickelten Sinn für feine Zwischentöne, fürs Poetisch-Realistische, kurze Zeit den Schick- saisweg einiger verlorener Menschenkinder. Doch ist er bei aller Düsternis nie hoffnungs- los, bei aller Offenheit nie peinlich. Richardsons Meisterstück ist nach einem Schauspiel der junger, Shelagh Delqney ent- standen, man merkt es dem Streifen in keiner Szene an. Das ist Film, wie Film sein kann und immer sein sollte. Die diesem Medium an- haftenden Eigengesetzlichketen sind Kamera und Regie bestens bekannt und werden virtuos ausgespielt. Bilder von ungetrübter Prägnanz und Leuchtkraft geben die Stimmungen der Personen bis in kleinste seelische Regungen wieder, und, unterstützt an Hand teils spritzig- schnoddriger, teils lyrisch angehauchter Dia- loge, werden die Charaktere der Mitwirkenden immer mehr erhellt und schließlich mit einem Gefühl fürs Echte, Wahre lupenscharf heraus- gearbeitet. Die Hauptdarsteller liefern ein so schillerndes und intelligentes Zusammenspiel, daß man keinen vorziehen, ihnen allen gemein- sam danken möchte: Der Neuentdeckung Rita Tushingham für ihre Jo, Dora Bryan für ihre Mutter und Murray Melvin für seinen Geoffrey. Ein künstlerisch und aussagemäßig erstaun- lich reifes Werk, das an fotografischer Präzi- sion, schauspielerischem Gestaltungsvermö- gen, lebensneher Thematik und dramatur- gischer Gestrafftheit nichts zu wünschen übrig- läßt. Die Gruppe des Free-Cinema notiert Begeben- heiten ohne Tendenz und moralistische Ambi- tionen. Möglich, daß sie gerade deshalb er- reicht, was anderen, direkteren zu erreichen nicht gegeben ist. Hoffen wir, daß weitere Filme dieser Gruppe halten, was die Kollegen von der <Neuen Welle" allzuoft leider nur versprochen haben. Hans Plück
This material may be protected by copyright law (e.g., Title 17, US Code).| For information on re-use see: http://digital.library.wisc.edu/1711.dl/Copyright