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Aufwärts
Jahrgang 15, Nr. 12 (December 15, 1962)
Wiebe, Philipp
Fröhliche!, p. 21
Sch., W.
Die neuen Gildebücher für den Weihnachtstisch, p. 21
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Fröhliche! s lag kein Schnee, es war nicht kalt, auch nicht warm, etwas nebelig, ein Wetter ohne Charakter, ein Wetter, das die Alten veran- laßte, zu beteuern, früher sei es echter gewe- sen, redlicher, so, wie es zu sein hatte, wenn Weihnachten nahte. Vor Jahren hatte der Frost geklirrt, der Schnee geknirscht, Ohren- schützer und Pulswärmer aus Wolle waren notwendig gewesen, auch Filzstiefel, und zu Hause in behaglich erwärmten Stuben, ange- füllt mit Bratäpfelduft, hatten laubsägende Jungens und stickende Mädchen gesessen, hingegeben dem wonnigen Gefühl erlaubter Heimlichkeit, mild lächelnde Mütter hatten Wunachzettel studiert- eine Puppe mit echten Haaren, ein Steckenpferd, ein Brummkreisel -, und über allem die gesummten, gesungenen und ungesungenen Lieder: ~Ihr Kinderlein kommt...", ,O Tannenbaum...", ,Es ist ein' Ros' entsprungen..." Dereinst war es so gewesen. Köthe ging durch die Hauptgeschäftsstraße, ging hastig, ungeduldig, war nervös, dachte immerzu: <Was soll ich nur kaufen, was soll ich nur..." Er war in Versuchung, aus echter Ratlosigkeit die Hände zu ringen. Rechts und links Schaufenster, grell, dekoriert mit seelen- voller Gründlichkeit und der cleveren Zuver- sicht unterschweiliger Werbung, versehen mit windigen, tannengrünen und engelhaarigen Appellen an eine gepeinigte Kundschaft, etwa: Man trinkt Sekt zum Festl (Soll heißen und wird auch so verstanden: Wer zum Fest keinen Sekt trinkt, beweist damit seine beschämende Armutl) ~Sie kauft sich ja alles selbst", dachte Köthe, sie braucht kein Weihnachtsfest, um langge- hegte Wünsche erfüllt zu sehen. Nur Parfüm und Schmuck nimmt sie noch an. Ich habe die Wahl zwischen Parfüm und Schmuck. In die- sein Jahr habe ich ihr einen Ring zum Geburts- tag geschenkt, ein Armband zu Ostern, eine Kette zum Hochzeitstag, eine Brosche zum Muttertag, obwohl sie keine Mutter ist, und zum Namenstag ein Fußknöchelkettchen aus purem Gold; vorige Weihnachten eine winzig kleine, goldene, wasserdichte, stoßgesicherte Auto- matlc-Armbanduhr. Und dazu immer Parfüm: Pigalle bei Nacht (betörend, Geheimnisse ver- heißend und Liebe offenbarendl DM 79,50)." Köthe stöhnte gequält auf. Vor zwei Wochen hatte er auf eine nackte Par- kettstelle gezeigt und gesagt:, Hier würde sich eigentlich eine kleine Perserbrücke ganz gut machen, was meinst du?" Und nun wußte er: Irma würde ihm die Perserbrücke schenken. SLieber eine Perserbrücke", dachte er, ,als im- Von Philipp Wiebe mer wieder Krawatten, Manschettenknöpfe und elektrische Rasierapparate." <Was soll ich ihr nur schenken? Was soll ich ihr..." Im ganzen Haus fehlte nicht ein Teil, das man zu Weihnachten schenken konnte. Die elektrische Waschmaschine hatten sie im Herbst gekauft, sehr günstig. Die Waschma- schine war der 1-Punkt auf dem kompletten Haushalt. Auch die Perserbrücke würde ein 1- Punkt sein. Und über dem i-Punkt gibt es nichts mehr. Man war auf bestürzende Weise wunsch- los. <Vor 9 Jahren, als wir noch arm waren, da wuß- te ich Geschenke", dachte Köthe wehmütig.,ln jedes Geschäft konnte ich hineingehen, über- all gab es massenhaft Geschenke für Irma. Ich schenkte ihr Strümpfe und einen Karton Seife, und sie freute sich darüber, es Ist heute nicht mehr zu fassen, aber sie freute sich tatsächlich darüber. Und ich, ich freute mich über ein Oberhemd. Es war auch noch schön, als wir uns vor 7 Jahren zusammen das erste Auto schenkten, ein gebrauchtes, doch gut erhalte- nes. Nach Weihnachten fuhren wir dann eine Woche nach Bayern. Irma war noch nie im Leben in Bayern gewesen 17 Jahre ist das erst her. Heute sagt sie, wenn wir Reisepläne machen: Ich war noch nie in Sao Paulol Sie sagt es schmollend, als wenn ihr das Leben etwas Wichtiges vorenthalten hätte. Köthe dachte das, während er blicklos in die funkeln- de Auslage eines-Juwellergeschäftes starrte. Es gab nichts, was Irma nicht schon gehabt hätte. Köthe rannte weiter, wurde Immer nervöser, dachte verbittert:,Können sienichts Neues er- finden[" Und er rannte die Straße hinauf und hinab, mal auf der rechten Seite, mal auf der linken. Er hörte, wie eine Frau zu einer anderen Frau sagte: ~Aber das habe ich ihm doch im vorigen Jahr geschenktl' Er hörte, wie ein kleiner Junge zur Mutter sagte: <Kein Segel- flugzeug, eins mit Motorl" Und er hörte, wie ein Mann zu seiner Frau sagte: <Sekt, daß wir den Sekt nicht vergessen l" Ihr Haus ist komplett eingerichtet? Dann ist es an der Zeit, ein Billard zu schenken1 Köthe las es, dachte: ,Vielleicht hätte ich Freude daran. Aber Irma?" Köthe gab es auf, er ging zu seinem Wagen, zahlte dem Parkwächter 1 Mark, der sagte mür- risch: <Fröhliche Weihnachten", und Köthe antwortete überhaupt nicht. Im Bett, Irma schlief schon, fiel ihm ein, daß er ihr ja Geld schenken konnte, einfach Geld. Er würde zur Bank gehen und sich zwei Hun- dertmarkscheine geben lassen, zwei ganz neue, unzerknitterte Scheine. Nein, nicht zwei - man schenkt auch nicht zwei Rosen -, es muß immer eine ungerade Zahl sein. Also drei. Am nächsten Tag schob er die drei Hundert- markscheine In ein mit violettem Seidenpapier gefüttertes Briefkuvert. <Für meine geliebte Irmal" schrieb er darauf, mit grüner Tinte, und er dachte befriedigt: ,Sol" Der Baum und die flackernden Kerzenflammen verbreiteten einen Geruch, der an Kindheit er- innerte, an erfüllte Erwartungen. Irma tat so, als ob sie sich über das Geld freue, er tat so, als freue er sich über die Perserbrücke. Sie küßten sich, pusteten dann die Kerzen aus und schauten sich im Fernsehen eine Bescherung für gepflegte Waisenkinder an. Die Kinder san- gen lieblich, Ihre ovale Münder sahen rührend aus, ein Minister streichelte die Kinder, küßte einige. Köthes tranken Sekt und sehnten sich nach Greves, die erst am nächsten Abend kommen sollten. Er machte den matten Versuch, Irma mit dem gutaussehenden Herrn Greve zu nek- ken, er sagte mehrmals: ,Er liebt dich", und Irma lachte laut, um ihn zu widerlegen, aber er merkte, sie hörte es gern. Am nächsten Morgen fuhr Irma zu Dort, ihrer Freundin. Köthe rief indes einige Freunde an und wünschte ,Fröhlichel" Dann las er ein wenig in der Weihnachtsausgabe seiner Zei- tung, las - wie jedes Jahr-, daß es zweckmäßig sei, einen Wassereimer neben den Weih- nachtsbaum zu stellen. Er aß eine Marzipan- kartoffel, trank einen Kognak, rauchte eine Zi- garre, und aus dem Radio klangen bekannte Weisen aus Humperdincks Oper,Hänsel und Gretel" - wie in jedem Jahr. Irma kam zurück, trat ins Zimmer und lachte. Als sie das Auto in die Garage hatte setzen wollen, war sie an der Tür hängengeblieben: linker Kotflügel und linker Scheinwerfer waren zerbeult. ,Nicht ärgern", sagte sie zu Köthe, <ich bezahl's von den 300 Mark. Strafe muß sein", fügte sie hinzu. Am Abend erzählten sie Greves, Irmas Weih- nachtsgeschenk seien ein Kotflügel und ein Scheinwerfer, und Greves lachten sehr, und Herr Greve legte für einen Augenblick den Arm um Irmas Nacken, und Frau Greve drohte daraufhin ungemein schalkhaft mit dem Fin- ger, und Köthe sagte: <Was habe ich gesagt, lrma?" Greves wollten natürlich wissen, was er denn gesagt habe, und als sie es wußten, lachten sie noch mehr. Köthe sah dabei zum erstenmal, daß Frau Greve zwei goldene Bak- kenzähne hatte. Ehe sie die Sektgläser an die Lippen setzten, riefen sie im Chor: ,Fröhlichel" oeKanntlicn i-urore gemaclt, es wuroe ge- priesen und bekrittelt doch in einem waren sich wohl alle einig: daß es auf den 1194 Seiten lebendiger, ja einmaliger Dokumentation und persönlichen Erlebens kaum eine Stelle gibt, die trocken oder gar langweilig ist. Shirer war bekanntlich amerikanischer Korrespondent im Nazireich, er kannte fast alle handelnden Figu- ren persönlich. Ein großer Teil dieser ent- larvenden NS-Dokumente lagerte bis 1955 in Alexandria (Virgina). Neben den 51 <Lage- besprechungen" im Führerhauptquarter und den Nürnberger Sitzungsprotokollen und Be- weisurkunden sind die sogenannten Alexan- dria-Dokumente das kostbarste Material, das Shirer für seinen großartigen Wurf zur Ver- fügung stand. Die Mischung von Journalist und Historiker ist dem Werk nicht schlecht be- kommen. Es hat atemberaubende Passagen und ist von einer trockenen, unpathetischen Leidenschaft. Einige sachliche Korrekturen hat Professor Golo Mann in seinem Vorwort zur deutschen Ausgabe angebracht. Gewisse Zu- sammenhänge zwischen preußisch-deutscher Tradition und Drittem Reich haben Shirer zu simplifizierenden Urteilen verführt Aber das sind nicht entscheidende Züge dieses in gro- ßem Zuge geschriebenen Berichts. Es Ist das tägliche Erlebnis des kritisch und unabhängig beobachtenden Zeitungsreporters, das Menschliche mit allen Schwächen und Feh- lern, das den Grundton dieses für die Auf- klärung der Jugend wichtigen Buches be- stimmt. Unter den neuen Gildebüchern des 4. Quartals finden sich noch, worauf einmal ausnahms- weise summarisch hingewiesen sei,9er Band II des bekannten Bildungsbuches (Geistes- wissenschaften, 776 Seiten mit 400 Abbildun- gen), der <Große Weltatlas der Büchergilde" mit 128 zwölffarbgen und ebenso vielen vier- farbigen Kartenseiten, der berühmt gewordene und verfilmte Roman ~Die Rote" von Alfred Anderach, Wolfgang Leonharde fesselnder Abriß eines bedeutsamen sowjetischen Ge- schichtsabschnittes <Kreml ohne Stalin" (512 Seiten), das Reisebuch des Afrikakenners Janheinz Jahn <Durch afrikanische Türen", <Die letzten Oasen der Tierwelt" (mit Zoo- logen, Wildhütern und Kamerajägern in den Nationalparks der Erde) von Dr. Wolfgang Engelhardt, ein Bildband <Abenteuer der modernen Kunst" von Oto Bihalji-Merin, William Faulkners Roman <Die Unbe en"; ferner eine zweibändige, von Hermann Kesten eingeleitete Lessing-Ausgabe, ein Erzählungs- band von Gogol <Abende auf dem Vorwerk bei Dikanjka"', ein Sammelband <Englisches Theater" mit einem Begiettext von Siegfried Meichinger, ein sorgfältig ausgewählter <Opern- und Operettenführer". W. Sch.
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