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Becher, Johannes Robert, 1891-1958. / Wir, Volk der Deutschen; Rede auf der 1. Bundeskonferenz des Kulturbundes zur Demokratischen Erneuerung Deutschlands (21 Mai 1947)
(1947)
I. Vom Gewinn der Niederlage, pp. 9-12
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Nichtsein", unfsere Blicke instinktiv dorthin wenden, wo in der allgemeinen Haltlosigkeit noch ein Halt winkt. Angesichts der Gr6fie unseres Verlustes aber konnen wir uns nicht mit halben Wahrheiten und halben Ma1inahmen begniugen, wir wurden uns durch solche Halbheiten unsere nationale Existenz nur vollends verpfuschen. Es gilt so- mit, ganze Arbeit zu leisten, und diese ganze Arbeit besteht vor allem darin: der Wahrheit wieder die Ehre zu geben; wieder zu lernen, objektiv zu denken und nach objektiven Mafien und prinzipiellen Grundsatzen zu werten und zu urteilen. Der Wille zur Wahrheit islt es, in dem sich die Willenskraft und der Lebenswille eines geschlagenen Volkes am besten kundtun, und da emn geschlagenes Volk der Wahrheit zu seinem Wiedererstehen am dringendsten benodtigt, so kann ein geschlagenes Volk in seinem Wahr- heitsdrang gerade dadurch sich das Tor zur Welt wieder bffnen und seine Unterlegenheit ausgleichen und wieder wettmachen. Wenn die Wahrheit zu unserem geistigen Atmen wird, kann unser Volk seinen vollen Lebensatem wieder- gewinnen. Die Wahrheit zu erkennen, ist ei-nem Volke vielleicht mehr gegeben in seinem Unglick als in sein.en gliicklichen Tagen, sowie auch der Mensch oft der Wahrhe-it und der Vernunft eher Gehor zu schenken geneigt ist, wenn er sich dem Abgrund, dem Nichts, gegeniibersieht, als wenn -er in der Hochstimmung des Erfolgs, von Schwindel ergriffen, sich unfehlbar wahnt und Gott ahnlich diinkt. Aus unserer tiefsten Erniedrigung, in der Konfrontation mit dem Nichts, iergibt sich zugleich auch die Chance, unls. auf das Unvergangliche und Substantielle unseres Wesens zu be- sinnen. So kann uns der erniedrigte Zustand in den Stand des Erhebens versetzen und des Wiedererh6ht- werdens. Und die Not, die uns treibt, das Letzte und Beste zu retten, was uns noch verblieben ist, kann zur Gnade werden, wenn es uns gelingt, das Wesentliche und das ewig Menschliche in uns wieder zu entdecken. I I
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