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Drews, Richard; Kantorowicz, Alfred, 1899- (ed.) / Verboten and verbrannt, deutsche Literatur 12 Jahre unterdrückt
([1947])
Frank Thiess, pp. 158-159
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Ernst Toller, pp. 159-160
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Nacht. Sein Wort aber lebte und zeugte sich fort bis auf unsere Tage. Nicht anders stand Sokrates vor seinen Richtern. Auch sein Sterben leitete eine Weltenwende ein, denn die Fruchtbarkeit des Geistes ist unermefflich, er hat .eine wahrhaft zeugende Kraft, und seine Kraft ist um so starker, je schwacher der Pulsschlag der grolen Kollektive geht. Wir Deutsche wollen uns dessen in dieser schwersten Stunde unserer Geschichte entsinnen. Der eherne GroB- organismus des nationalsozialistischen Termitenstaates ist zerbrochen. Damit Ist fMr Millionen ein Zustand tiefster Rat- und Hoffnungslosigkeit, tiefsten Leidens und einer Angst entstanden, die sie verzweifeln macht. Doch mit der Zertrtimmerung des staatlichen Organismus sind zugleich Voraussetzungen Itir ein neues Geistesleben geschaffen, wie sie seit Jahrhunderten nicht be- standen. ERNST TOLLER 1893 geboren, errang semnen ersten Bilh- elnem Gegensttick zu Friedrich Wolfs nenerfolg mit dem aufrtlttelnden Anti- ,,Matrosen von Cattaro". Im Exil schrieb kriegs-Drama ,,Wandlung". dent spater er den jifngst in Berlin aufgeftihrten ,,Masse Mensch", ,,Die Maschinensttlrmer", ,,Pastor Hall" und eine Autobiographie ,,Hinkemann" folgten. Wegen seiner fith- ,,Eine Jugend fUr Deutschland". 1939 renden Rolle in der Mtnchener Rdterepu- endete Toller durch Freitod in USA, voll blik zu Festungshaft verurteilt, schrieb Verzweiflung fiber das unaufhaltsam in er in der bayerischen Festungszelle die den Abgrund treibende deutsche Volk. - ergreifenden Verse seines ,,Schwalben- Einem vor 1933 erschienenen Aufsatz buchs". Dip Kieler Matrosenrevolte dra- tlber ,,POLITISCHE DICHTUNG"--ent- matisierte er in ,,Feuer aus den Kespeln', nelhmen wir den folgenden Abschnitt: Es gibt nur eine Form der Tendenz, die der Kflnstler abzulehnen hat, nam- lich die Tendenz der Schwarz-WeiM-Zeichnung, die den Menschen der einen Seite als Teufel zeichnet, den der anderen als Engel. Die Idee ist entschei- dender als das Ineinander guter und schlechter Eigenschaften. Aber trotz des Gesetzes strenger Objektivation, das Gestalten aus den ihnen ein- geborenen Notwendigkeiten formt, ist der Ktinstler sich bewutt, dalg gerade er zum kollektivgaltigen Subjektivismus gelangt. Er stellt Werte und Ideen nfcht gleich. In ihm ist angelegt eine Hierarchie, die hbhere Werte streng von minderwertigen sondert. Man darf politische Dichtung nicht verwechseln mit Propaganda, die dichterische Mittel benutzt. Diese dient ausschlie~lich Tageszwecken, sie ist mehr und weniger als Dichtung. Mehr: weil sie die Moglichkeit birgt, im starksten, im besten hypothetischen Fall den Horer zu unmittelbarer Aktion zu treiben. Weniger: well sie nie die Tiefe auslotet, die Dichtung erreicht, dem Horer die Ahnung vom tragisch-kosmischen Grund zu vermitteln. Mit anderen Worten: wenn Propaganda zehn ,,Probleme" zeigt, hat sie als psy- chologische Voraussetzung, daB alle zehn losbar sind, und sie hat das Recht, die Ldsung aller zehn zu fordern. Dichtung wird (man kann es nur an einem vagen Beisplel ausdrilcken) bei zehn Problemen die Losbarkeit von neun gestalten und die tragische Unlosbarkelt des letzten aufzeigen. Ob sie das pathetisch, resigniert, pessimistisch oder mit der Forderung des Den- noch! tut, ist eine Frage der geistigen Haltung, des kiinstlerischen Tempe- raments, nicht des Kerns. Da der Geist nicht das Antlitz des Tages wandelte, da die alte Wirklich- keit mit der gleichen Abscheulichkeit, mit der gleichen Gier, mit der gleichen
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