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Drews, Richard; Kantorowicz, Alfred, 1899- (ed.) / Verboten and verbrannt, deutsche Literatur 12 Jahre unterdrückt
([1947])
Graf Alexander Stenbock-Fermor, pp. 152-153
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Die Wohnungsverhaltnisse sind erbarmlich. Viele Hauser sind vollig bau- fiallig, die Decke hangt zerfetzt in die Stuben herein, FuBboden und Watnde sind verquollen und voller Risse, und doch werden diese Hauser bis in die Bodmnkammern hinein von Menschen bewohnt. In manchen Hausern wim- melt es von Ungeziefer, von Wanzen und Schaben. Wir kommen In ein uraltes baufdlliges Haus, das dem Sagenithlenbesitzer geh6rt, der die Wohnungen vermietet. In 7 kleinen dunklen Raumen wohnen 6 Familien in driickender Enge. Unten im Flur an der Holztreppe ist der Abort, der von allen Bewohnern des Hauses benutzt wird. Der Ge- ruch dringt durch das ganze Haus in jedes Zimmer hinein. Wir steigen die wacklige, von Wuirmern zerfressene Holztreppe herauf. Die Bewohner folgen uns. Frauen tragen ihre Kinder. Kinder stehen herum, den Finger im Mund, mit aufgerissenen Augen. Die MU.nner sehen zu den Tilren heraus, bleiehe knochige Gesichter. Im oberen Stock treten wir In ein kleines schmales Zimmer. Ein Bett nimmt fast die HlIfte des Raumes in Besitz. Im Bett liegt eine Frau. Im ersten Augenblick glaube ich: eine Leiche. Aber die Frau, die 35jahrige Frau eines Schanzenbinders, hat die Lungentuberkulose. Seit einem Jahr liegt sie. Sie ist ausgezehrt, die gelben Wangen eingefallen, ihre Augen dunkel um- randet, tief in den Hbhlen, haben einen erschuitternden Ausdruck der Ver- zweiflung und Miidigkeit. Ihre Arme, diinne Knochenarme, hangen unter der Decke hervor, dicke blaue Adern treten wett aus der Haut. Die schwind- silchtige Frau muB das Bett mit ihrem Manne teilen. Der Schanzenbinder ist geistig nicht ganz normal und bekommt epileptische Anfalle, die sich in der Woche drei- bis viermal wiederholen. Das einzige Kind, ein 71/2 Jahre altes Madchen, schlaft auf zwei Stiffihlen neben dem Bette der Mutter. Es darf nicht mehr Im Bett schlafen, weil die Mutter Nachtschweil3 hat. Der eiserne Ofen, der auch Kuichenherd 'st, raucht stark. Die Decke ist mit dickem schwarzem RuB3 belegt. In dem Raum arbeitet der Mann vom friihen Morgen bis in die Nacht. Die Frau ist in keiner Krankenkasse und erhalt nicht einen Pfennig Unterstuitzung. Als halbe Arbeitskraft verdient der Mann in der Woche 4 bis 5 Mark. Die Frau ist vollkommen arbeitsunfahig, und so haben diese drei Menschen tatsdchlich nur 16 bis 20 Mark im Monat zum Leben. Sie waren dabei schon lange verhungert, wenn nicht die Nachbarinnen hie und da Essen gebracht hatten, heimlich, denn ihre Manner, die unterernahrt sind, sehen das nicht gern. Der Schanzenbinder sitzt stumpf auf seinem Holzschemel, den halbfertigen Korb im Arm. Am Boden liegen Aste und Reifen. Die kleine Tochter steht vor uns, die Hande gefaltet, den Kopf verlegen gesenkt. Die Luft in diesem Zimmer ist zum Erbrechen. Vom Flur kommt der Klosettgestank. Es riecht nach Krankenschweil3, nach Suppe und Rauch. Heimat fur drei Menschen. Beim Verlassen des Raumes fallt uns ein Spruch in die Augen, auf bunter Pappe uiber die Tir genagelt: LaB draulen die Sorgen, Nur Gluck bring herein, Hier bist du geborgen, Hier bist du daheim. !50
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