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Drews, Richard; Kantorowicz, Alfred, 1899- (ed.) / Verboten and verbrannt, deutsche Literatur 12 Jahre unterdrückt
([1947])
Hilde Spiel, pp. 150-152
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Nun mochte der Schnee weiB auf dem Pfarrplatz liegen, auf Statue und Laterne. In der Stadt war er gelb und braun, besudelt vom Dung und Wasser der Pferde, durchl6chert vom Sand, den die BUrger streuten vor ihrem Tor. Stephanie, verschleiert, hinter ihrer Marderstola verborgen, eilte atemlos uber den leise knirschenden Boden. Sie war zum Michaeler Platz gelangt, aber hier wurde sie aufgehalten. Vom Graben naherte sich ein Viererzug, die Menge staute sich und winkte, ermutigt von der freund- lichen Erscheinung - hinter jener Marmorstirn, jenem schonen und ge- lassenen Antlitz, verbarg sich eine Leidenschaft, die der Gegenwart so fremd war wie die 1hre. Die Menschen zerstreuten sich. Sie lief Uber den Platz. In der Herrengasse sah sie von fern ihren Onkel Gustav. Sie iiberquerte die StraBe. Um die Ecke noch. Hier war das Haus. Andreas wohnte jetzt in einem geraumigen Gebaude, der friiheren Stadt- residenz eines Edelmanns. Zu beiden Seiten des Treppenaufganges stand ein dreiarmiger Leuchter, dessen Gaslicht prunkvoll auf einen verblichenen Teppich fiel und die abgeblatterte Stuckwand mehr als notig erhellte. Stephanie warf den schneebestickten Schleier zurtick, lief treppauf und irrte in den weitlaufigen Gangen umher, ohne seine Tiir zu finden. In spateren Jahren wiirde sie haufig traumen, daB sie in unaussprechlicher Qual durch endlose Vorraume lief, an Wanden lauschte nach einem Ton von Musik, und mit verschwimmenden Augen nach Tuirklopfern und Bronzeschildern spahte, um sich von neuem abzuwenden in das Dunkel eines noch uner- forschten Korridors. Endlich sah sie seinen Namen in gelbes Metall eingegra- ben. Sie zog am Glockenstrang. Andreas offnete ihr. An dem Fassungslosen vorbei trat sie ein. Es war ganz dunkel, wo sle stand; das Treppenlicht war hinter ihr er- loschen. Gegenuiber, wo ein schwacher Schimmer aus einem Turspalt drang, muBte Andreas' Zimmer sein. Er indessen hatte ihren Arm ergriffen und stammelte verlegene Worte, aber sie h6rte ihn nicht, ihr Blut schlug so laut. Wenn er mich nur hier noch nicht umarmt, dachte sie, plotzlich furchtsam. Wenn mir nur ein Aufschub vergonnt ist, eine kleine Spanne Zeit, bis zu jenem Zimmer, aus dem ich nicht zurdick kann! Sie entwand sich ihmn und taumelte wetter. Die Tur sprang auf. Drinnen, lachelnd ans Klavier ge- lehnt, pfauengrun und bernsteinfarben im Licht zweier Kerzen stand die Freifrau von Lodron. Der Boden gab nach, das Zimmer kreiste, auf allen Seiten klirrten die Wande herab. In Stephanies Brust rieselte Sand, und Wasser rauschte ihr uber den Rucken. Dennoch stand sie reglos. Es muJite zu diesem Auftritt Worte, Gesten, Blicke geben - Giulia Lodron kannte sie alle, Stephanie war stumm, als hatte sie ihre Rolle nicht gelernt. Die Frau fing zu sprechen an; ihr italienischer Akzent vermehrte die Unwirklichkeit. ,,Unsere Muse, Andreas? Und so verangstigt! Nehmen Sie Ihren Pelz- umhang ab, armes Kind. Das Zimmer ist uberheizt." Scheite brannten im Kamin, ein flackerndes Gegenspiel der Kerzen. Ein Hauch von Weihrauch lag in der Luft. Vonm Alkoven her blinkte dunkel das violette Sofa, halb von einem Schaffell bedeckt. Andreas stand noch an der T(ir, er trug Samthosen unter einem seidenen Schlafrock, sein Haar war verwirrt, aber er strahlte ein so OberralBiges Entziick n aus, daB die Luft zwischer ihm und der Frau zu zittern schien. Nun war er auch nicht mehr besturzt, nur eigentuimlich erregt, wie er so mit glanzenden Augen und in bebender Erwartung von einer Frau zur anderen blickte. 151
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