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Drews, Richard; Kantorowicz, Alfred, 1899- (ed.) / Verboten and verbrannt, deutsche Literatur 12 Jahre unterdrückt
([1947])
Rudolf Kayser, p. 85
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Kurt Kersten, pp. 85-86
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Page 85
RUDOLF KAYSER Lange Jahre hindurch Redakteur der Rudolf Kayser 1st jetzt amerikanischer ,,Neuen Rundschau", Verfasser einer her- Staatsbtirger. Aus seinem seinerzeit in der vorragenden Stendhal-Biographie sowie ,,Literarischen Welt" erschienenen Essay sahlreicher Essays von hohem Rang. - ,,LESSING UND SPINOZA" ein Abschnitt: Im Jahre 1780 war die ,,Erziehung des Menschengeschlechts", das tiefste Vermachtnis der Lessingschen Humanitat, eine Skizze nur und nicht das grol3e Glaubensbuch, das der Tod verhindert hatte, erschienen. Nirgends, auch im ,,Nathan" nicht, 1st Lessings klare, reine, herzliche Geistigkeit grol8- artiger ausgesprochen. Verkundigung eines neuen Evangeliums? Welt mehr: der Glaube an die kommende Zeit des neuen, des ewigen Evangeliums. Ein Jahr danach lebte Lessing nicht mehr. Man empfand diesen Verlust - wie keinen andern in der deutschen Gelstesgeschiclhte - als eine furchtbare moralische Einbule. Ein grol~er Schriftsteller, ein reformatorischer Wille ist gestorben? Nein, viel mehr: das Gewiswn des Zeitalters und zurn zweiten Male die deutsCel Reformation. Es ging ja urn mehr als urn Kunst, urn mehr als um Denken: es ging urn die Befreiung der Gewissen, urn die Helle der Welt, um Glanz, Macht, Ewigkeit des Geistes (der in Luther nicht gewesen war). Goethe schrieb erschuttert an Charlotte von Stein: ,,Wir verlieren viel, viel an ihm, mehr als wir glauben." Mehr als wir glauben! In der ,,Erziehung des Menschengeschlechts" ahnt man vieles von dem, was Leasing nicht mehr ausgesprochen hat. Vieles auch von seiner Einsamkeit; vieles von einem Schweigen, das, hatte dieses harte Leben nur einige Jahre noch ge- dauert, leidenschaftliches Wort geworden ware. Aber es hatte die Trennung von guten Freunden bedeutet, das Wachsen jenes einsamen Lessingschen Hugels, ,,von welchem er etwas mehr als den vorgeschriebenen Weg seines heutigen Tages zu iibersehen glaubt". Diese verschwiegenen Gedanken haben Spinoza zu ihrer heimlichen Mitte. Seinen verruchten Namen zu nennen, war anch zu Letsings Zeit noch ge- fahrlich. Noch immer wirkten die Flifche von Kirche und Synagoge, der geifernde Hal3 des offiziellen Denkens. Auch das neue Jahrhundert sah in dem franziskanisch demiitigen Juden nur einen gefahrlichen Ketzer und Atheisten. WuBte Leasing von dieser Trag6die Spinozas? Wufite er, daB hinter dem kuhlen und groBartigen Gedankenbau ein tragischer Mensch starnd, ihm verwandt in seiner Reinheit und Gute, aber nicht kampferisch wie er, sondern fern der Welt, die mit Dolchen und Flitchen ihn umbringen wollte'. KURT KERSTEN 1891 geboren, kam 1911 nach Berlin. ,,Die Bismarck. Schrleb Im Exil elne Biogra- Oktoberrevolution bestimmte mcine poli- phie fiber Peter den Grolen. Er war tische Haltung", hat er einmal im Blick jahrelang in Martinique und lebt jetzt In auf die russische Revolution bekannt. U'SA. Aus dem KRTEGSTAGEBUCH, das 1922 war er mum erstenmal in Moskau. Kersten wkhrend des ersten Weltkrieges Btlcher fber Friedrich II., Georg Forster, ffMhrte, stammt der folgende Abschnitt: Ole Offiziere sa~en herum wie in elnem Sterbezimmer. Man hftte glauben konnen, sie wurden sich mit Gewalt der Einsetzung der Soldatenrate wider- ,etzein - sie dachten gar nicht daran. Eine Offiziersversammlung, deren Entsclti;sst nait groBer Spannung erwartet wurden, entschied sich ffir Ab-
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