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Lüthi, Walter, 1901- / Deutschland zwischen gestern und morgen: ein Reisebericht.
([1947])
Kirche und Politik, pp. 83-90
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wir wagen es immer noch nicht recht, wirklich aus der Gnade allein zu leben und der Gnade alles zuzutrauen. In Wirklich- keit haben wir im Hinterhalt immer noch verborgene Not- vorrate an eigener Gerechtigkeit, auf die wir uns verlassen. Wir leben von unserer buirgerlichen Unbescholtenheit mehr als von der Gnade allein. Wir halten uns mehr darauf zugute, daB uns niemand einen Fehler nachzuweisen vermag, als darauf, daB Gott uns gnadig ist. So sind wir in der evangeli- schen Kirche weithin eine Gesellschaft von etwas durch- schnittlichen und harmlosen, weil vorsichtigen Leuten gewor- den. Die Reformatoren waren da anders. Verglichen mit unserer gut buirgerlichen Wohlanstandigkeit kommen die Re- formatoren nicht gut weg. Die haben sich zu sehr auf die Aeste hinausgelassen und haben wahrhaftig Fehler gemacht!, was wir einem Christenmenschen nie meinen verzeihen zu diirfen. Wals haben wir doch in unserer Fehlerlosigkeit den Reformatoren am Zeug geflickt! Wie hat sich doch jeder Se- kundarschuiler zum Richter uiber Luthers unmenschliche Bauernpolitik, uiber Zwinglis tollkiihne Biindnispolitik und iiber Calvins unduldsames Verhalten zu Servet berufen und berechtigt gefiihlt! Von diesem unserem allgemeinen Sauberkeitsfimmel spurt man im Gesprach mit unseren Glaubensbriidern in Deutsch- land jetzt nicht wenig. Sie haben Fehler gemacht, gerade auf politischem Gebiet. Sie sind jetzt wie gebrannte Kinder und sagen: <<Wir haben uns einmal zur Politik verleiten lassen, und es kam so dumm heraus, daB wir jetzt zur Erkenntnis gekommen sind: Einmal und nie wieder.>> So haben sich nicht wenige da drauBen zur politischen Totalabstinenz auf Lebens- zeit verschworen. Anstatt daB sie jetzt den SchluB ziehen: <<Wir gingen zuerst falsch hinein, jetzt wollen wir uns Muhe geben, recht hineinzugehen in die Welt>>, ziehen sie den SchluB: <<Wir gehen uiberhaupt nicht mehr hinein.>> GroB ist 89
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