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Aufwärts
Jahrgang 20, Nr. 12 (December 15, 1967)
Baumann, Willi
Das Phänomen, p. 4
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D Phänomen E s gibt Leute, die es sich nicht ver- kneifen können, bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit an der Bundesregierung Kritik zu üben. Es fehle ihr an klaren Konzeptionen für die Innen- und Außenpolitik, so sagen die einen. Sie hätte ganz allgemein die Er- wartungen nicht erfüllt, die in die Große Koalition gesetzt wurden - so meinen die anderen. Beide sind sich indes über einen Punkt einig: Man kann dieser Bundesregierung nicht den Vorwurf machen, daß sie ihre Unternehmungen nicht zu verkaufen wüßte. Ganz im Ge- genteil, stets muß man darauf gefaßt sein, daß neue Schlagworte geprägt werden, die alsbald in aller Munde sind, geschöpft aus den schier unergründ- lichen Schatzkisten wortgewaltiger Po- litiker. Nehmen wir ausnahmsweise einmal nicht Wirtschaftsminister Schiller aufs Korn, obwohl gerade er unübertroffen ist in der Prägung neuer Schlagworte und Slogans. Denken wir nur an seine ~Kon- zertierte Aktion", an die vielzitierte <Tal- sohle", an die umstrittene <Soziale Symmetrie" - und was dergleichen Schöpfungen mehr populär geworden sind. Nein, davon soll hier nicht die Rede sein. Wagen wir uns gleich eine Etage höher, zum Kanzler selbst, von dem man sagt, daß er außerordentlich belesen sei. Seine Sprachgewandtheit zu bewundern hatten wir schon Gelegenheit anläßlich seiner Regierungserklärung. Man er- innert sich, daß just zu diesem Anlaß <der andere Teil Deutschlands" aus der Taufe gehoben wurde. Eine Formel, die auch dadurch nicht besser wurde, daß sie sogleich von allen ganz- und halb- offiziellen Stellen übernommen wurde. ~Der andere Teil". das bedeutet doch wohl gleichzeitig, daß wir, die Bundes- republik, der ,eine Teil" sind. Mit all den Konsequenzen, die sich aus dieser sprachlichen Teilung ergeben. Also völlige Umkehr in allen Punkten einer ziemlich verfahrenen Deutschland-Poli- tik? Eine klare Abwendung gar von der verhängnisvollen Hallstein-Doktrin? Nichts von alledem konnte damit ge- meint sein, nimmt man das Maß daran, was in der Zwischenzeit geschehen, be- ziehungsweise nicht geschehen ist. Also tatsächlich nichts weiter als eine ge- wundene Kompromißformel, geboren aus der Verlegenheit, daß die Front der unerbittlichen Kämpfer für eine Politik der Gänsefüßchen zu wanken begann? Heute ist man geneigt, letzteres anzu- nehmen, mehr denn je zuvor. Inzwischen aber geht der Reigen der regierungsamtlichen Wortschöpfungen munter weiter. .,Anerkennungsgerede" liest der Bundesbürger etwas verdutzt in seiner Morgenzeitung, und nach kur- zem Zögern nimmt er dieses neue Schlagwort eilfertig in sein bescheide- nes Bildleser-Vokabular auf. Ist kurze Zeit später erschrocken'darüber, daß es nun schon eine ~Anerkennungspartei" geworden ist. Wird aber anderntags gründlich darüber aufgeklärt, daß damit eine Partei im üblichen Sinne nicht gemeint sei. Huh, das wäre gerade noch einmal gut gegangen, und dies, obwohl sich zunächst reihum alle be- troffen fühlten. Ja, reden muß man halt können! Der vorerst letzte Knüller aber ist das ~Phänomen". Wie man weiß, stammt es aus der ergiebigen Fundgrube des Kanz- lers, dargeboten dem Deutschen Bundes- tag, und allen informationshungrigen Bundesbürgern vermittels Television frei Haus übermittelt. Das ,Phänomen", eingebettet In ein Monstrum von Satz, in dem es nicht weniger als dreimal vor- kommt, ist nichts anderes als die Ost- zone, besser, die sowjetisch besetzte Zone, alias sogenannte DDR, pardon, der andere Teil Deutschlands. Ja, man muß In der Tat up to date sein, um die zahlreichen amtlichen Formeln nur ja nicht zum unrechten Zeitpunkt zu ge- brauchen. Aber damit nicht genug. Hand in Hand mit dieser brandneuen Schöpfung wird uns kundgetan, daß man mit diesem Phänomen in einen Brief- wechsel eingetreten Ist, und mehr noch, daß man sogar bereit sei, mit diesem Phänomen Kontakte aufzunehmen. Wer in den vergangenen Wochen und Monaten miterleben mußte, weiche see- lischen Bauchschmerzen die Anrede schon beim ersten Briefwechsel verur- sacht hat, der darf auf größere Kom- plikationen gefaßt sein. Etwa auf Formu- lierungen wie: ,An den Herrn Vor- sitzenden des Ministerrates des Phä- nomens" oder Sportmeidungen wie: ~Die Elf aus dem Phänomen" oder- nein, lassen wir das. Das Ganze ist ohnehin zu traurig, als daß man darüber auch noch amüsiert sein könnte. Man muß dieses schwulstige, gewundene Deutsch wirklich mehrmals lesen, um dessen Unsinnigkeit in vollem Um- fang zu erfassen. Da wird von der DDR gesprochen in einer Weise, als handelte es sich um einen soeben entdeckten, wundersamen Planeten. Da werden die merkwürdigsten Formulierungen geprägt, um nur ja nicht in den Verdacht zu ge- raten, etwa selbst der ominösen Aner- kennungspartei anzugehören. Da wird um drei Buchstaben herumgeschlichen wie die bewußte Katze um den heißen Brei. Und über all diesen Anstrengungen übersieht manganz offenbar, daß dieser Brei für die übrige Welt längst nicht mehr heiß ist. Allenthalben wächst nur die Verwunderung darüber, wie einfallslos und stupide hier eine Seite die Existenz der anderen wegdiskutieren will. Und sei es auch nur durch die Vermeidung der offiziellen Bezeichnungen. Der Beobachter kann sich des Eindrucks nicht erwehren, daß mitunter gewaltige Redeströme keinen anderen Sinn haben, als darüber hinwegzutäuschen, was in- zwischen Wirklichkeit geworden ist. Sollte man gar Angst davor haben? Wie dem auch immer sei - die Wirklichkeit wird sich wenig darum kümmern, wie man aus ähnlichen geschichtlichen Fäl- len weiß. Ist deshalb baldige Einsicht zu erwarten? Wohl kaum. Man wird sich weiterwinden und phantasiereich weiter- formulieren. So bleibt zu befürchten, daß wir auch fürderhin vor Überraschungen aus der Sprachkiste unserer Bonner Oberen nicht gefeit sein werden. Merke: ~Phänomen - (Natur)-erscheinung, sel- tenes Ereignis; Vorgang" (Duden). Willi Baumann Warten auf Rudi W arten Sie auch auf Rudi? Daß er was sagt? Er muß ja wohl, denn unser Rudi Dutschke ist nicht Godot. Sie wissen doch - Godot, der Popanz, der nicht kommt. Die an ihn glauben, auf ihn warten, sind angeschmiert. Nein, so einer ist Rudi nicht. Der kommt. Und macht den Mund auf. Aber daß es wackelt! Neulich bei den Berliner Demonstra- tionen gegen den Vietnamkrieg hockte er sich mit seiner Mannschaft vor den U-Bahnhof Wittembergplatz hin und schrie: ,Die Demokratie ist abgeschafft!" Das war mutig, verdammt nochmal. Den moralischen Druck, den er damit ausübt, kann Johnson gar nicht ausstehen. 25000 Schüsse aus Handfeuerwaffen und Maschinengewehren verfeuern die amerikanischen Soldaten in Vietnam - nach einer Schätzung des Pentagon! - bis sie einen einzigen Gegner ausschal- ten. So schlägt dort ein Großer auf die Kleinen ein und das unablässig und auf unabsehbare Zeit. Im Namen der Demo- kratie. Sie verstehen, glaube ich, was Rudi sagen wollte. Ja, und jetzt warte ich auf ihn. Seit Sonntag schon. Und nicht einmal erst seit dem letzten Sonntag, sondern schon seit dem vorvor- ich weiß gar nicht, seit dem wievielvorletzten. Seit Sonntag, dem 23. Oktober. An diesem Tag versenkten die Ägypter den israeli- schen Zerstörer Eylath. Der Zerstörer befand sich 22 Kilometer östlich von Port Said und noch außerhalb der ägyptischen Gewässer. Die Geschosse, die ihn in den Grund bohrten, waren ferngelenkte sowjetische VSSA-Raketen. Die Geschützmannschaft waren sicher keine Ägypter. Sagen die Fachleute. Dazu seien diese Raketen viel zu kom- pliziert. Und zu neu. Die Raketenschnellboote stammen aus den Lieferungen der Sowjetunion. Wie die Panzer und die Flugzeuge auch, die Ägyptens Rüstung innerhalb kurzer Zeit so halbwegs wieder auf ihren Vorkriegs- stand gebracht haben. 15 israelische Seeleute wurden getötet, 36 werden vermißt. Aber darum geht es nicht. Zwar sollte es auch darum gehen, offen gesagt, aber 15 gefallene Krieger beeindrucken heute niemanden mehr. Nein, auf Rudi warte ich, weil die Eylath ein Menetekel ist. Mene mene tekel upharsin. Falls Sie die Bibel gelesen haben, wissen Sie, was ich meine. Das Reich, dessen Tage nach dem Willen seiner Feinde gezählt sein sollen, ist Israel. Und gewogen und zu leicht be- funden wurde die Motivierung dersowje- tischen Unterstützung für die Araber in diesem Krieg. Schon lange. Weil der Vorwurf des Imperialismus einem Klein- staat gegenüber, der von sozialistischen Parteien und einer sozialistischen Ge- werkschaft gelenkt wird, eine lächerliche Verleumdung ist. Doch um das zu wissen, brauch ich Rudi nicht. Damit wir uns recht ver- stehen. Aber wer gegen die Bomben in Vietnam ist, so sehe ich's nämlich, der muß auch gegen die VSSA-Raketen vor Port Said sein, und wenn er das nicht laut sagt, dann kauf ich ihm das andere auch nicht ab, und der böse Verdacht könnte in mir entstehen, daß es mit seiner geistigen Unabhängigkeit nicht allzuweit her ist. Deshalb warte ich auf Rudi. Daß er was sagt! Jetzt warte ich schon ziemlich lange. Ja und ganz allmählich fange ich an, mir ein bißchen wie Estragon vorzu- kommen. Oder wie Wiadimir. Sie wissen doch: Wiadimir und Estragon, die beiden Clowns, die auf den Popanz Godot war- ten, der nicht kommt... Gerd Angermann
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