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Aufwärts
Jahrgang 19, Nr. 4 (April 15, 1966)
Lenz, Siegfried
Man sollte nicht alles lassen, wie es ist, pp. 18-19
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leicht klatschend gegen das Fenster fal- len und sagte: <Es steht in keinem Buch, ich hab' überall nachgeschlagen." <Du bist am Ausspielen", sagte einer der bei- den anderen, ein alter Mann mit Stahl- brille. <Es war einfach nicht zu finden", sagte der Korrektor. <Fang nicht wieder an", sagte der Mann mit der Stahlbrille, <ich hatt's gerade vergessen." <Also spielen wir oder spielen wir nicht", sagte der Rothaarige. Sie spielten weiter. Sie spielten schwei- gend wie an jedem Abend, wenn sie im letzten Vorortzug saßen, der Hamburg verließ, jeder erfüllt von seiner Müdigkeit und dem Wunsch, auf der Heimfahrt nicht sich selbst überlassen zu sein. Zwanzig oder sogar dreißig Jahre hatten sie sich so nach Hause gespielt, nicht gleichgültig, aber auch nicht erregt, drei Männer aus der geduldigen Gemein- schaft der Pendler, die sich beinahe zwangsläufig gefunden hatten und die sich nun in einer Art instinktivem Einver- ständnis immer wieder fanden, immer im vorletzten Abteil, das sie mit knappem Gruß betraten und auch wieder verließen. Sie spielten lautlos, keinem schien daran gelegen, auch nur ein einziges Wort über Gewinn und Verlust zu verlieren, und dann war es wieder der Korrektor, der das Spiel unterbrach. <Man muß es doch herausbekommen", sagte er, <man muß doch wohl erfahren können, wie sich Tekhila schreibt." ~ich gebe", sagte der Rothaarige. <Warum mußt du das wissen", sagte der Mann mit der Stahlbrille. <Manches möchte man herausbekom- men", sagte der Korrektor. <Wozu?" <Man sollte nicht alles lassen, wie es ist." ~Heb ab", sagte der Rothaarige und ver- teilte. <Morgen erscheint die Sache", sagte der Korrektor. ,Tekhila wird viermal genannt in der Geschichte, und jedesmal wird es anders geschrieben." <Ich höre", sagte der Rothaarige. <ist das ein Dorf?" fragte der Mann mit der Stahlbrille und steckte seine Karten zusammen. ,,Tekhila heißt ein Dorf in einer Geschich- te", sagte der Korrektor. <Wer hat mehr als zwanzig", sagte der Rothaarige. Sie sahen in ihre Karten, keiner konnte mehr als zwanzig entdecken, und dem Rothaarigen gehörte das Spiel. Der Re- gen sprühte gegen das Abteilfenster. Der Zug fuhr langsamer jetzt, bremste neben einem leeren, schlecht beleuchteten Bahnsteig; sie hörten Türen zufallen und dann hastige Schritte auf Steinfliesen. Als der Zug wieder anfuhr, war der Kor- rektor an der Reihe zu geben, und der Mann mit der Stahlbrille fragte: <Warum ausgerechnet Tekhila?" <Ich weiß nicht", sagte der Korrektor und hob das graue, unrasierte Gesicht. nicht." Er ließ seine Karten achtlos auf dem Fe g stertisch liegen und wischte sich ü' bi die Augen, während die anderen i Blatt betrachteten und es gleichzeitig z sammenschoben, resigniert, abwinken ~Der dicke Hund ist bei dir", sagte d Rothaarige. <Sie heißt SDie Augenbinde', sagte d Korrektor. <Wer?" <Die Geschichte, d Geschichte da in Tekhila. Es ist eine all lederne Augenbinde, die der Bürgerme ster aufbewahrt." <Für wen?" fragte ci Mann mit der Stahlbrille und legte sein Karten ebenfalls auf den Fenstertisc <Ich weiß nicht", sagte der Korrekto ~vielleicht für jeden in Tekhila. Es ist ei kleines Dorf auf einer Ebene, weni Schatten, ein Fluß mit lehmtrübem Was ser geht da vorbei, und die Leute, di blinden Einwohner von Tekhila, arbeite auf ihren Feldern." <Beginnt so die Ge schichte?" fragte der Mann mit der Stahl brille. ~Nein", sagte der Korrektor, <di Geschichte beginnt anders. Sie beginnt im Haus des Bürgermeisters. Der Bür- germeister nimmt eine lederne Augen- binde vom Haken. Es ist dunkles, flecki- ges Leder und staubig, und der Bürger- meister wischt die Binde an seiner Hose sauber. Er poliert sie mit seinen Finger- spitzen, und dann verläßt er das Haus, Vor seinem Haus sitzt ein Korbflechter bei der Arbeit. Der Bürgermeister hält ihm die Binde hin, läßt ihn das kühle Le- der betasten; der Korbflechter springt erschrocken auf und folgt dem Bürger- meister, sie gehen gemeinsam über den Platz und die krustige Straße hinab zu den Feldern, und überall, wo sie einem Mann begegnen, bleiben sie stehen, der Bürgermeister hält ihm stumm die leder- ne Augenbinde hin, läßt ihn erschrek- ken." <Und jeder folgt ihm", sagte der Rot- haarige. ~Ja, jeder, der die Augenbinde betastet hat, erschrickt und folgt dem Bürgermei- ster", sagte der Korrektor. <Sie unter- brechen ihre Arbeit oder ihr Nichtstun. Sie fragen nicht. Sie folgen ihm einfach, und der Bürgermeister selbst sagt kein einziges Wort, während er die Männer von Tekhila sammelt oder auf sich ver- pflichtet, indem er ihnen die Augenbinde hinhält, und zuletzt hat er alle Männer des Dorfes hinter sich." <Und so beginnt die Geschichte?" fragte der Mann mit der Stahlbrille. <So ähn- lich", sagte der Korrektor, <morgen steht sie in unserem Blatt. Morgen kannst du sie nachlesen. Tekhila wird viermal ge- nannt und jedesmal anders geschrie- ben." ~Und der Kerl mit der Augenbin- de?" fragte der Rothaarige. ~Wer?" <Der Bürgermeister und alle, die er hin- ter sich hat: Wo ziehen die hin?" <Zur Schule", sagte der Korrektor. <Es ist Mittag, ich glaube Mittag, und sie 18
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