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Aufwärts
Jahrgang 15, Nr. 9 (September 15, 1962)
Plum, Werner
Irgendwelche Dörfer in Algerien, pp. 16-17
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hatten uns verfahren. Der Wegen id auf einem flachen Bergrücken im gheiss. Wenn meine Vorkuiegskarte mußte irgendwo vor uns ein Dort gendein Dort, ohne Belang. Ich fuhr ieil ich ~irgendwelche" Dörfer sehen, egsspuren nachgehen und die Ge- ihrer Bewohner erfahren wollte. Holzflöte wies uns der Junge einen Weg nach Südosten ins Dorf. Wir waren gewitzt und fuh- ren in entgegengesetzter Richtung nach Nord- westen. Tatsächlich war unser Entschluß richtig. Wir fanden eine ,Mechta" oder was davon übrig- geblieben war: Ruinen, unkrautüberwucherte Gänge, verkohlte Balken. Ich wähnte das Dorf menschenleer, stand aber unvermittelt einem alten Bauern gegenüber. Anders als der Hir- tenjunge war der Alte frisch und unbeküm- merL. Lachend wies erauf das saftige Grün eines Getreidefeldes hinter den Ruinen: <Das ist die schönste Ernte in diesem Jahrhundert. Seit meiner Kindheit habe ich nicht mehr so volle Halme in den Händen gehalten. Im Jahre der Unabhängigkeit trägt die Natur unsere Landes- farbe." Ich wollte die Geschichte seines Dorfes er- fahren. <Es war damals im Jahre 1953. Französische Soldaten kamen zu uns. Sie beten um Wasser. Wir boten ihnen frisches Trinkwasser aus dem Brunnen. Dann vertrieben sie uns aus dem Dorf. Wir durften nichts mitnehmen. Als wir weggegangen waren, bestiegen die Franzosen ihre Panzerwagen und beschossen unsere Machte. Den Rest setzten sie in Brand." Ein anderer, jüngerer Bauer gesellte sich zu uns. Er unterbrach das Gespräch: <Allah hat uns gesegnet. Mit dem Blut unserer Märtyrer ist der Boden getränkt. Deshalb ist er in diesem Jahr so fruchtbar." Der Jüngere war voll ver- haltener Fröhlichkeit. Scherzworte flogen zwi- schen ihm und seinem Nachbarn hin und her. Ich wollte das Gespräch wieder auf die Ge- schichte des Dorfes lenken. In diesem Augen- blick bannte mich eine eindrucksvolle Erschei- nung. Aus dem hohen Getreidefeld tauchte ein Schimmel auf. Der Reiter trug einen tiefhän- genden Schlapphut und ... die Leoparden- uniform der Fallschirmjäger. Dicht vor unserer Gruppe zügelte er sein Pferd, sprang ab und grüßte militärisch. Der jüngere Bauer nahm das Pferd und ließ es in der nächstgelegenen Ruine grasen. Der ältere stellte uns vor: ein Offizier der Befreiungsarmee. Der Hirtenjunge vorhin hatte seinem Kamera- den auf dem Nachbarheng ein Zeichen gege- ben. Von Hügel zu Hügel wurde der Ruf bis ins Lager der ALN weitergetragen: Fremde sind gekommen. Der Offizier ließ sich von meinen Begleitern und mir die Begleitbriefe zeigen, die uns die ALN in Constantine ausgestellt hätte. Er machte sich Notizen. Als er mir den Begleit- brief zurückgab, bat er mich um drei Visiten- karten (Wanderer, begegnest du der ALN, rüste dich mit Visitenkarten aus!). Der Offizier forderte mich auf, mich nicht durch seine An- wesenheit stören zu lassen; andererseits wollte er nicht mit militärischen Fragen be- lästigt werden. lernen. Der OfifzIer lächelte, überließ es aber den Bauern mir zu erklären, daß die ALN ihnen Unterricht gäbe. Beim Weggang nahmen die Bauern In militäri- scher Haltung von uns Abschied. Steif streck- ten sie den linken Arm nach unten, während der rechte zur Stirn schnellte. Der Offizier reichte uns dagegen lässig die Hand, schwang sich auf sein Pferd, winkte noch einmal zurück und verschwand, so wie er gekommen war, im Kornfeld. Das Dorf Bhloul steht in keinem Geschichts- buch, in keinem Touristenführer Algeriens. Trotzdem hat es einen Namen in der Gegend südlich von Constantine: Es birgt einen der zentralen Soldatenfriedhöfe der ALN. Mit wortloser Geste hatten mir die Bauern von Bahloul den Weg zum Friedhof gewiesen. Stumm blieben sie im Hintergrund stehen, während ich an den Reihen der kleinen, stein- umsäumten Einzelgräber vorbeiging. Auf je- dem Grab steckte ein Pappschild mit den Per- jonalien des Gefallenen. Gleich hinter den Einzelgräbern türmten sich sieben hohe Sand- hügel. Zwei tiefe und breite Gräber waren aus- geschachtet und noch leer. Ich ging zur wartenden Gruppe zurück und bat den Ältesten unter ihnen um eine Erklärung: ,In diesen Massengräbern liegen die Toten unseres Dorfes und der Nachbargemeinden ringsum. Hier, in unserer Gegend, wer das be- rüchtigte Korea-Bataillon der französischen Armee stationiert. Eine Fußstunde von Bahloul entfernt haben sie im stillgelegten Bergwerk Ain Arko scharenweise Männer. Frauen und Kinder erschossen. Erst jetzt durften wir das Bergwerk betreten. Bis heute haben wir 409 Leichen entdecken können. Sie liegen unter diesen sieben Hügeln." Ich ließ mich in das Bergwerk führen. Aus den aufgebrochenen Stolleneingängen schlug mir süßlicher Leichengeruch entgegen. Vor den Grubeneingängen lagen verrostete Patronen- hülsen im Gras. In einer Höhle entdeckte ich auch Reste von Granaten. Oben, am Grubenrand des Bergwerkes, stand die Wand einer Hausruine; lauter Gewehr- einschläge hatten den Verputz aufgerissen: Hier fanden die Einzelhinrichtungen statt. Mir kam das alles wie ein Spuk vor. Ich drängte darauf, andere Hinrichtungsstätten und andere Massengräber, zu sehen. Aber der örtliche Lei- ter der FLN wehrte ab: <Was soll das? Nun ist alles vorbei. Damals hätte die Welt darüber reden sollen. Heute Ist es zu spät" Ich drängte darauf, weitere zu sehen. <Nun gut, wenn Sie unbedingt wollen. Wir wissen nicht, wo überall unsere Toten liegen. Fragen Sie unterwegs die Hirtenjungen, die sind darüber besser unterrichtet als wir Er- wachsenen. Die Kinder waren im Krieg die einzigen, die sich noch einen Blick trauen konnten." Massengräber auf dem Friedhof der Algerischen Befreiungsarmee (ALN) Der Rat schien mir fremd, aber Ich folgte ihm. Irgendwo auf der Strecke hielt ich einen Jun- gen an. Zuerst wollte er nicht recht mit der Sprache heraus. Dann zeigte er mir am Hori- zont einen Hügel: ~Vor zwei Jahren, im Som- mer, habe ich gesehen, wie einige Frauen und Männer auf diesen Hügel geführt wurden. Sie waren alle gefesselt. Dann hörte ich Gewehr- schüsse, dann war Stille." Kamm des Hügels entdeckten wir eine Kies- grube. Keine Spur von einer Hinrichtung. <Nein, die Soldaten ließen ihre Opfer nicht offen liegen. Nach der Schießerei kam ein Raupenbagger." Es dauerte nicht lange. bis wir im Sand eine Kettenspur dicht am Hang entlang entdeckt hatten. Schaufel und Gerät hatten wir nicht bei uns. Darum scharrte ich wahllos irgendwo mit der Schuhspitze in der Erde herum. Ein Gebiß, ein Oberschenkelknochen, ein gan- zes Gerippe, ein Stoffetzen, ein Schädel, ein Drahtgeflecht jmit dem die Opfer gefesselt waren, ein Schuh. Unterwegs blieb unser Wagen in einem Erd- spalt stecken. Auf der unwegsamen Piste hatten wir das Hindernis im grellen Sonnen- licht zu spät bemerkt. Gerade wollten wir uns zu einem Fußmarsch in den nächsten Weiler rüsten, da tauchte ein Traktor in der Schlucht auf. Dank einer unsichtbaren Allgegenwart der Hirtenjungen waren Landarbeiter schnell von unserer Panne unterrichtet worden. (Wenn es nötig ist, funktioniert das .,arabische Radio" doch besser als unser Draht- oder drahtloser Funk.) Der Landarbeiter ließ es sich nicht nehmen, uns zu einem Glas Pfefferminztee einzuladen. Er führte uns zu einer nahen Feldscheune, wo schon andere Landarbeiter einen kleinen Imbiß für uns improvisiert hatten. Der Boden gehörte einem europäischen Großgrundbesitzer. Der Eigentümer war nach Frankreich geflohen. Doch sein muselmanischer Verwalter sorgte mit Unterstützung eines schnell gebildeten Arbeiterrates für die Bestellung der Felder. Beim Knacken frischer Mandeln kamen wir rasch ins politische Gespräch. Agrarreform? <Wissen Sie", meinte der Traktorführer, <darüber wird viel geredet. Mir persönlich ist es gleich, ob ich ein Stückchen Land mein Eigen nennen kann. Seitdem ich in den Renault- Werken in Paris gearbeitet habe, liebe ich Motoren. Nur in einer großen Farm kann ich meinen Traktor fahren. Aber mein Vater und meine Brüder denken anders. Sie sind ganz auf Land versessen und möchten unten im Tal, dort wo ich Sie herausgeholt habe, den Strei- fen wiederhaben, den unser Großvater an die Europäer verlor." <Wurden Sie enteignet?" <Ja, weil wir unseren Besitz nicht rechtzeitig
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