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Aufwärts
Jahrgang 15, Nr. 12 (December 15, 1962)
Angermann, Gerd
Prinsengracht 263, p. 14
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reiung 1 urnme verrucKt gewor- nBüte. Soeen habe der Lagerverwal- rTurmstrae angerufen und nur kurz Die Krabiner kommen." Worauf er delr abehängt habe. Wir erklärten Melster. wenn er es nicht wüte, was :u beduten habe, wüße wir es erst tAms dar Man wi ]r m Rflr vor- te ken Wort, sondern ging an meine Orehbank und schltt den Moo ei. Im Büon sollte der Eindruck enseen, daß draußen ales in Ord- nung war. Die Ruhe in der Werktätte hätte leiht Verdacht erregen können. Dann ging ich um die laufnde Maschine herm und zog mei- nen Schlüssei zur Hintertür aus der Tasche. Da wußten es sile. <Wenn L. seinen Schlüssel zieht, dann ist es soweit." Im Vorübergehen sah ich, wie mich einer von ihnen mit einem unglaubwürdigen Lälchein ansah. ich weiß bis heute nicht, warum er so gelächelt hat, aber der Eindruck is unverlöschlich. Ich ging in den näichste angrenzenden Raum, de leer war, und schloß die Tür hinter mir. Meine Maschine lief. Bis jetzt war ich langsam gegangen, nun be- gann ich zu laufen. In Sekunden war ich an der Hintertür, schloß auf und verschloß die Tür von der Treppenseite wieder. Die Treppe lief ich nicht hinunter; ich sprang. Ich mußte da- mit rechnen, daß meine Flucht bereits entdeckt war und die Verfolger den kürzeren Weg über die Vordertreppe nahmen, um mich an Ihrem Ausgang, den ich passieren mußte, abzufan- gen. Ich lief über den zweiten Hof, auf den die Hintertreppe mündete, passierte eine Durch- fahrt, vorbei am unbesetzten Ausgang der Vor- dertreppe und lief über den ersten Hof. Ich wollte eben In die Durchfahrt zur Straße ein- biegen, als mir ein Auto, das ebenfalls auf die Straße wollte, den Weg versperrte und mich so Walrer, 0 , oue 'araogner tKomre'-, nare mcn lediglich für eine Warnung in möliht deut- licher Form geale, abe nicht wörtich ge- nommen. Ware ich durch die Durchfahrt ge- laufe, wäre ich wohl kaum hell auf die Srß gekmmen. ich mußt mich wohl oder übel enscliße, lagsm vor mich hinpfeifend, deeine Hand lssig in der Rocktsche, auf die Staehinauszuschiendern, wie einer, der wäh- rend.er.Abe.t.auseeinma.kur.te.eonie ren gehen will. Die SS-Lete saen mich prü- fend an, aber da ich keinen Stern trug und ihnen sonst weiter nicht verdächtig vorkam, ließen sie mich passieren. im Vorübergehen sah ich meine jüdischen Kollegen aus der Ab- teilung Turmstraße im Inner des Wagens hok- ken. Sie alle sahen mich. Wenn einer von ihnen ein Wort gesagt hätte, wäre ich verloren ge- wesen. Wie sie so dasaßen, am Boden des Wagens, mit ihren blauen, schmutzigen Mon- teuranzügen und den gelben Judensternen, sahen sie zum Erbarmen aus. Ich hatte nun noch etwa hundert Meter bis zur nächsten Straßenecke zu gehen. Dabei war ich In klarer Sicht für die SS-Leute und mußte da- her genauso langsam gehen, wie ich aus dem Haus gekommen war. Wenn meine Flucht da bemerkt worden wäre - ein bequemeres Schußziel als mich hätte man sich schwer vor- stellen können. Aber es geschah nichts. Ich kam heil um die Ecke. Sobald ich außer Schuß- weite war, begann ich zu laufen. Wie ich da nun ohne Mantel und Jackett, lediglich Im Ar- beitsrock, über die Straße lief, wie ich oft gelau- fen war, wenn ich während der Werkpause schnell etwas einkaufen wollte, kam es mir plötzlich zum Bewußtsein, daß ich nicht mehr zur Arbeit zurückkehren konnte, daß ich jetzt kein zu Hause mehr hatte, daß es jetzt keine Eltern mehr gab und daß nun ein scharfer aoenoe worte am IemerOn geügen .Wan- zig Minuten, nachdem Ich die Fabrik vrassn hatte, wusc ich mir in seiner Wohnung den letzten Maschinenscmutz von den Fingern. Es fehlten genau zehn Tage, um die sh Jahre vollzumachen, die ich in dieser Fabrik geretthatte. Späte erfuhr ich, daß mein Vater am selbe Vormittag von senem Arbet- platz, in einer Waffenfabrk In Treptow, depor- tiertworde.war wäihrend die Osram-Fabrk in Renickendorf, in der meine Mutter arett, von der Gestapo vergessen worden war. Meine Mutter wurde erst in der Nacht vom 5. März 1943 von zu Hause abgeholt, als die Gestapo auf alle bis dahin vergessenen Juden Jagd machte. Meinem. Vater gelang es, seinem Bru- der, der in Mischehe lebte und in Berlin bleiben durfte, eIne Postkarte zu schicen Die Karte kam aus Auschwitz und war datiert vom 1. Mär z 1043. Wo meine Mutter geblieben ist, habe Ich nie erfahren ... Der vorstehende Beitrag ist entnommen aus dem Paperback ,Wir haben es gese- hen - Augenzeugenberichte aber die Ju- denverfolgung im Dritten Reich", redigiert und herausgegeben von Gerhard Schoen- bemer Im Verlag Ratten & Loening, Ham- burg 194 432 Seiten mit 11 Abbildungen, 12,80 DM. Das Buch gibt den Opfern selbst das Wort. Der Herausgeber des Bildbandes ~Der gelbe Stern" hat aus Hunderten von BO- chem und ungedruckten Manuskripten eine Auswahl getroffen, die die seiner Meinung nach eindrucksvollsten Schilde- rungen aus allen Ländern und Sprachen in einer zeitlichen und geografdichen um- fassenden Montage vereint. Prinsengracht 263 Von Gerd Angermann Hauswand entlang zum Hof. Diese Leiter sah ich aber nur als letzten Ausweg an, da man auf ihr von den Bewohnern der gegenüberliegen- den Häuser gesehen werden konnte. Keine drei Minuten nachdem ich endlich im Toiletten- raum ,Posten beziehen" konnte, ging die Tür- klingel. Der Meister öffnete, und ich hörte eine Stimme: ,Heil Hitler, sind alle Leute auf ihrem Platz?" ,Jal" sagte der Meister, ziemlich überrascht. ,Gut", sagte die Stimme. ~Wir müssen abholen." ,Wen?" fragte der Meister. ~Alle", kam die knappe Antwort Und weiter: ~Sie kommen jetzt mit mir ins Büro, wir müs- sen telefonierenl" Ich hörte die Schritte meh- rerer Leute, die im Büro verschwanden, und dann war es still auf dem Korridor - und toten- still In der Werkstatt. Als man nun im Büro jemanden telefonieren hörte, sagte ich mir, daß ,es" jetzt losginge. Das Haus hat eine rötliche Backsteinfassade. Hinter der grünen TOr führt eine Treppe hoch. Wie in den meisten holländischen Häusern ist sie eine Art Hühnerleiter. Instinktiv greift man nach dem Geländer. Ein junger Mann fragte: ~Aus welchem Land kommen Sie?" Und machte auf seiner Liste einen Strich. Es ging auf Mittag zu, und England hatte an diesem Tag die meisten Striche. Ich versuchte mir vorzustellen, wie es vor 20 Jahren hier ausgesehen haben mochte. Aber meine Phantable versagte. Die Wände blieben kalkig weiß, der Glaskasten mit dem puppenhaft nachgebildeten Versteck in der Mitte des Raumes rührte sich nicht von der Stelle, und es blieb die Büste der Anne Frank. Ich suchte warme Möbel, einen Genever trin- kenden Amsterdamer Kaufmann, Kinder die ihre Schulaufgaben machen, eine rotbackige gewesen. Das Versteck war im Hinterhaus. Der junge Holländer, der die Striche gemacht hatte, führte uns in einen Nebenraum, dort schwenkte er ein Bücherregal zur Seite, und plötzlich war alles unheimlich nahe und wirklich. Auf ein- mal wußte jeder: Das ist dias Bücherregal, und dahinter ist die Treppe, und wenn man die Treppe hinaufsteigt, kommt man in das Hinter- haus, dort sind die Räume... Jetzt sah ich Anne; Anne mit ihrer Mutter, Anne mit Herrn Dussel, Anne mit Peter. Und Immer hatte sie schwarze Strümpfe, und wenn sie nachdenklich war, strich sie sich mit der linken Hand eine Haarsträhne aus der Stirne. Der rundliche Franzose neben mir, sah sie in diesem Augenblick sicher ebenfalls, die Isra- elis sahen sie und das Ehepaar aus Exeter. Aber sie alle sahen sie anders, und jeder sah pinnte. Heinz Rühmann hängt da und raucht mit verschmitztem Grinsen eine Zigarre. Unter dem Fenster, das auf einen stillen grünen Hof hinausgeht, liegen Blumen und Kränze. Die Blumen sind verdorrt, die Kränze angestaubt Einen sah ich mit einer schwarz- rotgoldenen Schleife. Ich suchte die Schrift: Niedergelegt von einer Delegation aus der DDR. Daneben liegt ein Kranz aus der Bundes- republik, von den Falken. Als ich die stelle Treppe wieder hinunterstieg, sah ich etwas, was mir beim Heraufsteigen entgangen war: zwei große helle Räume. <Ta- gungsräume", sagte mir der junge Mann, der uns geführt hatte. Sie wurden eingerichtet, als man das Anne-Frank-Haus zu einem inter- nationalen Jugendzentrum machte. Und Ich dachte, daß das besser als alle Blumen und Kränze ist.
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