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Aufwärts
Jahrgang 15, Nr. 12 (December 15, 1962)
Feld, Friedrich
Der Fall Jewtuschenko, p. 8
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Heiden durften keine menschlichen Schwä- chen haben, und die Gestalten, die etwa an den Segnungen des Regimes zwefelten, muß- ten Irregeführte Menschen sein, die am Ende bekehrt werden konnten. Es ging um die Glori- fizierung eines Systems und die Verdamnmung seiner Feinde; psychologische Details waren Nebensache, man hatte weder Raum noch Zelt für sie. Nun kommt ein junger Mensch da- her, Eugen Aexandrowitsch Jewtuschenko, 1gßS in Sims, an der transsibirischen Eisen- bahn geboren, und spricht von sich selber, seinen Eindrücken, seinen persönlichen Ge- fühlen, seiner Einstellung zu der Welt rings- um. Er betont, daß sein Glaube die Revolution ist, er weiß, daß das Sowietregime vieles ge- tn hat, um den Lebensstandard der Menschen zu heben - sein Großvater hat gehungert, seine Generation hungert nicht mehr; aber er verläßt sich ausschließlich auf sein eigenes Erlebnis und beschreibt es, auch wenn es nicht mit der offiziellen Version übereinstimmt. Er reist gern, er hat einen ungeheuren Hunger nach Kennenlernen der Welt, weil er irgendwie auch der Darstellung des kapitalistischen Aus- landes mißtraut, die ihm zu Hause vermittelt Sowjetsystem rebelliert und folglich ein Ver- bündeter des militanten Westens im Kalten Krieg ist. Und das ist grundfalsch. Die Reporter, die Jewtuschenko als eine Art Symbol des inneren Widerstandes der russi- schen Jugend gegen die Sowjetnacht hin- stelen wollen, haben seine Gedichte nicht ge- lesen, sonst müßte sogar ihnen aufdämmem, daß sie Unsinn zusammenschreiben. Sie könn- ten nicht eine Zeile zitieren, die auch bei sehr freier Auslegung darauf hindeutete, daß Jewtuschenko das kapitalistische System dem kommunistischen vorziehe oder die sozialen Grundlagen der Gesellschaft in Frage stelle, in der seine Gedichte entstehen. Gewiß, er ist zornig, er ist sehr zornig über die Dinge, die unter dem Staiin-Regime geschahen, und er fragt, wie war es nur möglich, daß man sie ge- schehen ließ; er ist zornig über jede Art und Form der Unmenschlichkeit und Bestlalltät, wie etwa über den Antisemitismus, und pran- gert in seinem berühmten Gedicht über Babi Jar, die Schlucht bei Kiew, in der im zweiten Weltkrieg Tausende von Juden ermordet wur- den, nicht nur die Nazis an, sondern auch die russischen Antisemiten von gestern und was heute noch von Ihnen übrig sein mag; und er ist zornig über eine Welt, In der so viele Men- schen sich degradieren müssen, daß am Ende ,,lntegritt schon als eine Tugend gilt'. All dies aber sind nur die Gedanken und Gefühle eines jeden Dichters, der seine Umgebung mit offenen Augen und wachen Ohren beobachtet; aus Ihnen zu schließen, daß Jewtuschenko ein Umstürzler sei, Ist albern. Der ungeheure Eindruck, den seine Gedichte auf die russische Jugend machen, geht auf ganz andere Gründe zurück. Die Jugend hört hier Töne, die ihr neu sind - die wohl schon im 19. Jahrhundert aufgekdungen, aber in der Stalin-Epoche streng verpönt gewesen waren. Jewtuschenkos erste Gedichte entstanden knapp vor dem Tode Staline, und sein Talent blühte auf, als der eiserne Griff der Kultur- diktatoren um die Kehle der Dichter sich zu lockern begann. Kritiker, in deren Gehirnen die unter Stalin gültigen Regulationen weiter- lebten, fielen über Jewtuschenko her. In sei- nem Gedicht ,Knotenpunkt Sima" spricht er von obszönen Inschriften auf Zäunen, von be- trunkenen Männern, die Ihre Frauen schlagen, von Frauen, die vor den Läden zanken, vor ihnen zu haben, wäre in der Ära der stram ausgerichteten Parteilinienliteratur als ,geg revolutionär" verboten gewesen. Und schreibt Liebesgedichte, von einer Schlich heit der Empfindung und einer einfach Größe, die unter Stain auch seiten gewordi war, denn Liebesgedichte waren verdächt gewesen, die Liebe könnte ja unter Umstände von der Erfüllung der vorgeschriebene Arbeitsnorm ablenken. Kein Wunder also, daß Jewtuschenkos jünl ster Gedichtband in einer Auflage von hur derttausend Exemplaren aufgelegt wurde, da seine Gedichte vertont und von den junge Menschen gesungen werden: Es ist, als wän die ewige Dichterstimme, die Stimme de Menschen, der nur auf sein Herz und sein G wissen hört, und die eingefroren war in dei Tagen Stalins, nun durch den ,Tau", wie Iii Ehrenburg es nannte, befreit worden unm klänge wieder heil und klar - und ganz neu fN eine Generation, die sie zum erstenmal hört Aber die Dinge so hinstellen, als legti Jewtuschenko mit seinen Worten Bombe unter die Stühle, auf denen die Minister de Sowjetregierung sitzen, als wäre er ein Ver. bündeter jener Hltzköpfe im Westen, die vor einem Kreuzzug gegen den Kommunismul träumen, heißt nicht nur, ihm Ansichten unter schieben, die er nie ausgesprochen hat, son dem auch die Wiederkehr geistiger Freihel gefährden, deren Teil er Ist. Noch sind nich alle Schatten gewichen, wenn auch die Stalin Denkmäler verschwunden sind, und die ge dankenlosen Reporter, die Jewtuschenko mi den zornigen jungen Männern des Westen gleichsetzen, spielen nur denen indie Hände die da Im Hintergrund warten fmgen, bereml ihm :einen Maulkorb Umzuhängen. Dichter denen das Wohl und Wehe der Menschhei am Herzen liegt, waren seit Urzeiten zornig junge Männer, in einem viel höheren Sinn uni viel größerer Ziele wegen, als es die Zornigei des Westens heute sind. Man lass Jewtu schenko seinen Weg gehen und drücke ihn keine lächerlichen Gummietempel auf dii Stim. Dann mag er, der so viel Altes, da. ver schüttet gewesen, zu neuem Leben erweck hat, einst auch etwas Neues zu sagen habev FriedrIch Feld (Lemden)
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