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Aufwärts
Jahrgang 5, Nr. 22 (October 30, 1952)
Krämer-Badoni, Rudolf
Muß etwas Gewaltiges getan werden?, p. [4 and 5]
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UND DIE FOLGEN Im <Allotra" läuft <Das sündige Weib'. Es muß ein sehr sündi- ges Weib sein, denn an der Kasse steht: <Für Jugendliche unter 16 Jahren verboteni" , Da meint der Kollege Peperl Huber, 15 Jahre, Benjamin der Jugendgruppe <Nahrung und Genuß" in Fischbach, es wäre gut zu wissen, wie sündig das Weib sei. Studienhalber natürlich. Außerdem fällt ihm ein - soll demnächst in der Gruppe eine Diskussion über den schlechten Film sein. Wer mitreden will, muß ja Erfahrung haben. Ganz klar. Also zieht der Peperl seinen Zweireiher an und setzt seinen Sonntagshut auf, glaubt sich zwei Jahre älter und sagt an der Kasse mit tiefer Stimme: Einmal Sperrsitz!" - <Wie alt?" fragt die Frau hinter der Scheibe und hält das Billett fest.<Achtzehn", sagt Peperl böse und herrisch. Er fühlt, wie er rot wird. Aber das kann die Kassenfrau nicht mehr sehen. Peperl ist drin. Wo bleibt denn da die Demokratie? Die Reklame rollt ab, ein Kulturfilm über die Wasserflöhe, die Wochenschau, die Peperl schon zweimal gesehen hat, weil sie vier Wochen alt ist, und dann... geht das Licht an. Statt des .Sündigen Weibes" erscheinen zwei Schutzleute, gehen prüfend durch den Saal, bleiben vi's-ä-vis Peperl stehen, und der eine ruft: <Hallo, junger Mann!" Peperl fühlt sich nicht angesprochen. Er schaut suchend durch den ganzen Saal. Der ganze Saal schaut auf Peperl. Junger Mann!" ruft der Schutzmann noch einmal. Peperl sucht weiter. Der Saal feixt. Schutzmann Nummer 257 arbeitet sich mühsam die Reihe 21 entlang und tippt Peperl auf die Schultern: <Sie meine ich! Wie alt? Peperl schaut sehr er- staunt. Ach so, er ist gemeint. Wer konnte das wissen? <Wie alt sind Sie, bitte?", fragt der Schutzmann immer noch gedul- dig. <Sechzehn", sagt Peperl und wird zum zweiten Male rot. .Gut. Darf ich den Ausweis sehen?"-Es dauert eine Weile, bis der Ausweis da ist. Das <Sündige Weib" ist vergessen. Peperl ist Mittelpunkt des Kinos. Peperl wünsc'ht Das sündige PPerei ült .,i, e Weib" in die Hölle, wo es auch hingehört. <Du kannst aber schlecht rechnen", sagt der Schutzmann streng. <Dezember 37 geboren. Jetzt haben wir - wenn ich nicht irre - Sep- tember 52. Macht fünfzehn! Oder? Also komm mal mit!" Peperl murmelt was von studienhalber" und .Filmdiskussion" - aber das nützt niits. Peperl muß raus.<Drei Jahre lebenslänglich", sagt die kleine Blonde vor ihm. <Ziege", faucht Peperl zurück und trottet nach draußen. Drinnen läuft <Das sündige Weib» an. Die Kassenfrau muß her.<Achtzehn hat er behauptet", verteidigt sie sid <Er ist fünfzehn! Sieht doch ein Blinder mit dem Krück- stock", meint der andere Schutzmann. Und Peperl meint: Ich wollte mir den Film nur studienhalber ansehen. Für die Diskus- sion in unserer Jugendgruppe. Man muß sich doch ein Bild machen können. Uberhaupt, ist das vielleicht Freiheit? Hier einen so rauszuholen. Wo bleibt denn da die Demokratie?" Peperl stellt einen Antrag, die Pferde werden scheu Drei Tage später liest Peperl vor. <Ich bitte die Gruppe, folgen- des einstimmig zu beschließen: Der Ortsausschuß möge prüfen, wer in unserer Stadt den Besuch der Kinos überwacht und wer den Besuch bestimmter Filme verbietet, was eine Einschränkung der Freiheit des Staatsbürgers bedeutet." Das schlägt ein. Die Wände des Gruppenzimmers wackeln, Der Wimpel fällt von der Wand. Die Scheiben klirren. Draußen werden zwei Pferde scheu und rasen bis zum Cafe Kaiser, Ferdis angekauter Apfel findet sich auf Erikas weißem Kleid, wieder. Vrnnl h bkrnmmt oine n arhlrramnf 'Und dar Per erl helrnmmt leren lachen, wissen aber euch nicht viel mehr rl hätte in der Gruppe keine ruhige Stunde mehr gehabt. reifen, wäre längst ýs bis ins Grab ver- loch nicht. Es käme udann recht um i aciLusstraD entlang bi szur WerkIstat von Poensgen & Meyer, wo er arbeitet. Jeden Morgen macht er das. Jahraus, jahrein, Sommer wie Winter. Ist doch langweilig, nicht? Und eines Morgens fährt der Schmitz - nur der Abwechslung halber - mal auf der linken Fahrbahn den Kaiser-Wilhelm-Ring entlang. Die anderen Radler schimpfen, weil sie nicht vorwärts kommen. Einer schmeißt ihm eine Tomate nach. Ein kleiner Junge kommt ihm in die Quere und fällt auf den Hintern; um Haaresbreite entgeht Schmitz einem Mercedes 220S; die Straßen- bahn muß bremsen, daß die vom Hinterperron plötzlich auf den vorderen fliegen; ein parkender Opel bekommt ein paar Schrammen mit, und Schmitz denkt gerade: so geht es doch sehr schlecht, und will auf die gewohnte Fahrbahn hinüber, da hat er eine alte Frau auf der Lenkstange. Schon ist der Schupo da. Schmitz wird aufgeschrieben, kommt vor Gericht, muß hundert Mark bezahlen - Geldstrafe nennt sich das - und auch für das Schienbein der alten Frau aufkommen. Laut Gesetz! Da wird natürlich niemand mehr sagen: Wo bleibt denn da die Freiheit der Demokratie? Wenn der Schmitz doch links fahren will... Unsinn! Gesetze gibt es eien Land der Erde kann man machen, was man will. Die Ge- setze sind in der Regel auch nicht gegen uns gemacht, son- dern für uns. Sie sorgen - wiederum in der Regel -, daß wir alle gesund in Ruhe und Frieden leben und jeder zu sei- nem - für alle gleichen - i(t)-4&-icom.A l.O innnieA.e- R(echt kommnt, Also sind die Ge- setze nötig. Und es hat auch Er nimmt di Frau auf die Lenkstange einen Sinn, daß Peperl Huber nicht in >Das sündige Weib« darf. Auch studienhalber nicht." Wie das mit dem Gesetz eigentlich anfängt In Bonn werden also die Gesetze gemacht, beim Bundestag. Kommt da eines Morgens der Dr. Adenauer, der Bundeskanzler, herein und sagt mit leicht kölnischem Tonfall: ,Morjen! Heut' mache m'r denn mal e Gesetz. Wer weiß was?" Und dann kommt das Gesetz zum Schutz der Jugend in der Offentlichkeit zustande. Ist natürlich purer Unsinn. So ein Bundeskanzler hat so viel zu tun, daß er nur das anpackt, was unbedingt notwendig ist, und auch das nicht immer. Aus Lust und Laune macht man keine Ge- setze. Sie müssen notwendig sein. Irgendwer muß sie verlangen. Das Volk oder die Regierung. Da war z. B. der Josef auch im Allotria». <Todesreiter von Ar- kansas" hieß der Streifen. Die beiden Schupos kamen nicht, denn damals gab es das Gesetz noch nicht. Also sah Josef die Todes- reiter über die Prärie brausen, und wie sie dem Sheriff von 1 lollyday etliche Pfund Blei zwischen die Rippen knallten, An- schließend wird noch der Postwagen nach Arkansas geknackt Schon sind 30000 Dollar verdient. Es lebe der Mut, sagt sich eine Stunde später der Josef und wirft das Billett der Spätvorstellung weg, entsichert die Schreckschuß- pistole und bedauert, daß es hierzulande keine mutigen Män- ner mehr gibL Und bedauert, daß er weder zu den Todesreitern noch zu der Bande Jack Allans gehört, denn dort ist das Leben. Bedauernd trabt er durch die Lungengasse. Man müßte... Kurz darauf bekommt der Milchhändler Simoneit an derselben Stelle eine Pistole vor die Brust gesetzt und ist seine Brieftasche quitt. Nicht mit 30 000 Dollar. Aber neunundsiebzig Mark und siebenundachtzig Pfennig sind für den Simoneit auch eine nette Stange Geld. Darum geht er zur Polizei. Dreieinhalb Tage später sitzt der Josef schon im Knast, denn man fand bei ihm Schreck- schußpistole und Brieftasche, nunmehr allerdings ohne 79,87 Mark. (Die hatte er mit Betty verjubelt) Was mit Simoneit pas- sierte, geschieht dann noch in einem Monat dreiundzwanzig ande- ren biederen Bürgern, und dann ist das Maß voll. Sagt der Referent Klein im Justizministerium zu seinem Chef, Ministerialrat Groß: <Gestatten, Herr 'Ministerialrat, die Mel- dung, daß wieder einmal alle Jugendstrafanstalten überfüllt sind." So kommen sie darauf zu sprechen, warum sie überfüllt sind: al Verderhnis der Jugend durch die schlechten Zeiten im allgemeinen und b) durch den Kriminal- und Wildwestfilm im besonderen. Kriegt der Klein deshalb den Auftrag, einen Ge- setzentwurf auszuarbeiten, der a) der Jugendverderbnis im all- Die Sache ist schon Wiederholt fr ,t,,k,,f>et ,i, Sb,,si.« hr,,k,',llI' besprochen worden. Der Herr Justizminister hat schon lange gesagt: <Da müssen wir uns mal mit befassen." Die CDU-Frak- tion hat schon mehrmals einen solchen Entwurf gewünscht, Jugendorganisationen sind vorstellig geworden, Wähler haben an ihre Abgeordneten geschrieben. Da sitzt nun der Klein, und sein Kopf raucht, weil es tausende Für und Wider gibt und er selber eigentlich auch nicht weiß, wie man dem Ubel begegnen soll. Darum bespricht er sich mit Leuten, die was von dem Fall verstehen: Eltern, Lehrern, Seel- sorgern, Erziehern, Jugendführern. In unserem Fall muß er sogar noch Kinobesitzer und Gastwirte hören. Natürlich spricht er die Leute meistens nicht selbst. Die können ja nicht alle nach Bonn fahren. Wo kämen wir da hin? tFortsetung folgt) Als Louls Armetrong ein Jazzkonzert in London des Jazz blies ihm ein majestätisches Trompetensol Das ist für dich, Königl Louis Armstrong kann sich 1a dieser Erde schlägt so viel Begeisterung, Liebe und il mal eitel. Wenn die Wogen der Begeisterung den IEo ein Kind. Er rudert mit seinen kurzen dicken Armeid (er König von England anwesend. Der König ( hinüber und rief: <That's for you, Rex!" he in er ist ein echter König. Keinem Monarchen gen wie diesem Neger. Und er ist nicht ein- i ttern, freut sich der König auf der Bühne wie irm, lacht, daß man es im Parkett hören kann. *Wer meint, daß der Jazz nur Rausch bedeute, versteht weder ihn noch seine jugendlichen An- hänger, und das Pathetische in der Gestalt des Trompeters, der mit geschlossenen Augen sein .Horn" über das brausende Orchester hinweg .in die Nacht stößt", bleibt ihm verschlossen. War es nicht Buddy Bolden, der erste, dem man den Titel <King" gab, und der spielte, bis er zu- sammenbrach, dessen Horn des Nachts meilen- weit über den Mississippi drang, wie die Legende berichtete, dem das Volk zuströmte, wo immer er auftrat - King Bolden, der das Signal des Aufbruchs gab? War es nicht sein Nachfolger. King Oliver, der jenem denkwürdigen Auszug aus Neuorleans voranschritt, dem Zuge der durch die behördliche Schließung des Hafen- distrikts Storyville Vertriebenen, der auszog nach dem Norden und Chikago den Seinen er- oberte? Und war es nicht schließlich Louis Arm- strong, König der Könige, der seine silberne Trompete in schwindelnde Tonhöhen stieß, der Neuyork San die Wand spielte" und Europa erstürmte? Der dem König von England mit dem Ruf ,That's for you, Rex" ein Extrasolo spielte, den 1934 bei seinem ersten Besuch in Kopen- hagen zehntausend jubelnde Dänen am Bahnhof empfingen, um ihn auf den Schultern zum Hotel zu tragen, den in Rom vor drei Uahren gar 30 000 Menschen am Flugplatz begrüßten, dem Anna Magnani gerührt um den Hals fiel, der vom Papst in Privataudienz empfangen und vom fran- zösischen Ministerpräsidenten mit einem Pokal beschenkt wurde? Wer wollte sagen, daß diese Popularität, die noch eine Garbo und einen Chaplin mit Neid erfüllen könnte, allein dem liebenswürdig be- scheidenen, genialen Musiker Louis Armstrong gelte, der seine Kunst selbst nur als ein Hand- werk <to make people happy'-den Leuten Freude zu machen - betrachtet und durchaus nicht als die Verkündigung eines Evangeliums, wie es viele Jfans" gern sähen? Daß sie nicht vielmehr auch den Helden King Louis betrifft, den armen Negerjungen aus dem Waisenhaus in Neuorleans, der die Welt eroberte mit seiner strahlenden Trompete und seinem breiten Grin- sen, unbesiegt in tausend Schlachten? Die Jugend verehrt Harry James und Ray An- thony, weiße Trompeter mit großen Orchestern, schön und elegant wie Filmschauspieler und routinierte Meister wirksamer Effekte. Sie spielen ihr den Traum vom schönen Leben ä la Holly- wood, den Glanz nächtlicher Millionenstädte, schwerer Luxuskabriolette, verführerischer Frauen. Anders ist es mit Louis Armstrong. Er ist weder schön im Sinne Hollywoods noch von sportlich salopper Eleganz. Untersetzt, ständig in Schweiß gebadet und bis zu zwanzig Taschen- tücher je Konzert verbrauchend, Grimassen schneidend, wenn sich seine Züge beim Spiel der Trompete nicht zu geballter Konzentration ver- tiefen, ergreifende Phrasen mit heiserem Lachen beendend, trotz seiner 52 Jahre ein Vulkan an Vitalität, so spielt und singt er den Traum vom großen, starken Leben, das keine Kulissen und keine Konten braucht, das prachtvoll, warm und gut ist, über alle Schranken und Grenzen hin- weg. Noch im humorvollen Vortrag eines be- langlosen Tagesschlagers hören seine jungen Verehrer die rührend frommen Spirituals, die er einst auf Schallplatten sang, und erkennen in kurzen Phrasen seines Spiels die mächtige Dyna- mik seiner Blues, die in den zwanziger Jahren die Jazzmusik revolutionierten. Ihn, der nie zu einem Star wurde und sich seine Natürlichkeit in einer Weise bewahrte, die auf dem Felde der populären Musik einzigartig ist, ihn liebt die Jugend - und man sollte es ihr nicht verargen! Olaf Hudtwalcker * Fotos: Keystone, Fischer (21 Muß etwas Gewaltiges getan werden? Erzdhlung von Rudolf Kramer-Bodoni an Iei zei, die Königin von England auf dem Balkon des S1 aus spricht, dann begrüßen diese Völker ihre Uönig feiert. Louis Armstrong, der kleine stim- I Macht ist die goldene Trompete. Und er regiert , zkratisch. Es gibt keine Trennung zwischen Lir in den Diktaturen Jazz streng verboten ist. Der Vater stand in der Haustür, als der Sohn aus der Schule kam. Der Junge hielt die Schul- mappe gegen den Regen über den Kopf, sein durchnäßtes Hemd flappte ihm im kalten Oktoberwind um Brust und Rücken. .Warum hast du deine Windjacke nicht an- gezogen?" fragte der Vater. .Ich habe sie nicht gefunden, sagte der Sohn. Der Vater wandte sich ins Haus und begann an Kleiderständern, in Schränken und in Kommoden zu suchen. Nach einer Weile trat er ins Bad, wo die Mutter den Sohn mit einem Tuch trocken- rieb, und sagte: <Du hast sie irgendwo liegen- gelassen." <Nein, Vater, ich habe sie nicht mitgenommen." .Dann hast du sie irgendwann verschlampt. Sie ist nicht im Haus." <Vater", rief der Sohn mit erhobener Stimme, .ich habe sie nirgend liegengelassen.' .Lüq nicht!" sagte der Vater.<Du weißt, ich höre es immer deiner Stimme an, wenn du lügst. Mir kannst du solche Komödien nicht vorspielen." <ich lüge nicht!" rief der Sohn mit Trotz in der Stimme. <Lügner!" sagte der Vater, und seine Lippen zitterten.<Und Feigling dazul" Der Vater packte den Sohn, hörte nicht auf die Einwände der Mutter und verprügelte ihn. Dann ging er schnaubend auf den Flur hinaus, griff im Vorbeigehen noch einmal in das oberste Fach eines großen Schrankes und zog die Wind- jacke daraus hervor. Er stand da, hielt die Jacke in der Hand und blickte vor sich hin. Dann kehrte er um, trat mit der Jacke In der Hand vor den weinenden Sohn und sagte: .Sie ist da. Ich bitte dich um Entschuldigung! Kannst du mir verzeihen?" .Ja", rief dei Kleine und weinte nun noch mehr, mit ganz veränderter Stimme, <ja, Vater - gern." Der Vater streckte die Hand aus, der Sohn er- griff sie und drückte sie. Gern - hatte er ge- sagt. Der Vater ging hinaus, trat in sein Arbeits- zimmer, blickte sich lange um, sah auf den Tisch, die Schränke, die Bilder an den Wänden, die Blumen in der Vase, zögerte, trat dann wieder auf den Flur und zog den Regenmantel an. Er trat leise auf die Straße, blickte einen Augen- blick auf die Fenster zurück und ging dann ent- schlossen und mit finsterem Gesicht die Straße hinunter. Er schritt aus wie einer, der einen lan- gen Gang vor sich hat. Er ging zum Städtchen hinaus und an der Eisenbahnlinie entlang. Ein Zug dampfte aus dem Bahnhof und fuhr an ihm vorüber; Köpfe von Schulkindern hingen, zu Trauben geballt aus den offenen Fenstern und lachten und schrien. Der Mann ging nun langsamer, dann zögerte er, schließlich blieb er stehen. Der Zug verschwand hinter einer Bodenwelle. Die Telefondrähte längs der blanken Gleise hingen voller Tropfen, die Acker weit und breit standen leer, der Horizont verschwamm im regnerischen Himmel. Langsam kehrte der Mann um, gebeugt schlug er den Rückweg ein. Als das Essen aufgetragen wurde, trat er durch die Haustür ein. Am Nachmittag half er wie gewöhnlich dem Sohn bei den Schulaufgaben. Sie hatten Matteo Falcone zu lesen, gewaltige Geschichte. geschrie- beh von Prosper M6rimn6e. Geschichte des Söhn- chens Fortunato - der Sohn las sie im eben- mäßig gallischenTonfall, mit kleinen Hebungen kurz vor den Enden der Säfze, fast vollkommen, fast wie ein kleiner Franzose. Geschichte des Söhnchens Fortunato, das allein zu Hause ist, von einem verfolgten Banditen fünf Franken be- kommt und ihn Im Heuschober versteckt, von den verfolgenden Polizisten eine silberne Uhr bekommt und den Versteckten verrät, vom heim- kehrenden Vater in die Heide geführt und er- schossen wrd. Gewaltige Geschichte - dem lesenden Sohn versagte die Stimme, dem Vater wurden einen Augenblick die Augen feucht -. er stand auf und ging im Zimmer umher. Dann erklärte er dem Sohn die Geschichte: In Korsika ist die Gastfreundschaft heilig, einmal war sie überall heilig, ein ehernes Gesetz. Der kleine Fortunato erliegt der Versuchung, bricht das Gesetz, verrät den Gastfreund. Das Gesetz aber duldet keine Ausnahme, der Vater steht wie der Sohn unter dem Gesetz. Das Gesetz ist heili- ger als das eigene Fleisch und Blut... <Das ist eine Geschichte", sagte der Vater und schritt mächtig im Zimmer auf und ab. <Eine Ge- schichte braucht eine Steigerung und einen ent- schiedenen Ausgang. Für die Heimkehr Matteo Falcones hätten sich dem Dichter verschiedene glaubwürdige Möglichkeiten angeboten. Er wählte die gewaltigste, die am meisten Schrecken erregt, blinden Gehorsam gegen das eherne Gesetz, blind die Augen vor dem eigenen Fleisch und Blut. Märim6e wollte es dem Sophokles gleich tun; das verstehst du aber noch nicht!" Beim Abendessen sagte er zu seinem Sohn: .Du hast einen unbesonnenen Burschen zum Vater. Lern an dem schlechten Beispiel von heute morgen es besser machen. Dazu sind wir hier, um aus unseren und anderer Leute Fehler zu lernen. Nicht wie in den Geschichten. In den Ge- schichten geht es immer aufs Ganze." Der Sohn blickte zum Vater auf und nickte. ,Ja", sagte der Vater und trank einen Schluck Wein. SHeute mittag, als ich mich 'so schrecklich Ins Unrecht gesetzt hatte, spürte ich auch, daß Ich etwas Gewaltiges gegen mich tun müßte. Gericht abhalten. Das hätte gerade noch gefehlt. Wir auff dieser Welt gehen nicht aufs Ganze, wir müssen uns mit weniger begnügen,» Er steckte einen Bissenin den Mund, kaute, schluckte und sagte zu dem Sohn: .Ich werde dich nicht mehr schlagen, auch wenn du im Unrecht bist." eXii iiil liiii i ] iiiilliiii iiiii iiii iiiii il "iiiilliiii i iii iii ii iiiiiiii iiiii i i i!ii . .
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