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Aufwärts
Jahrgang 4, Nr. 18 (September 8, 1951)
Kähnert, M. E.
Louisiana Legende, p. 7
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LOUISIANA Europa 1920 - le1~inun war es Europa 1920 -allen klar, daþ die Welt fortan ein anderes Gesicht tragen w¸rde. Krieg, Revolution, Inflation, farbige Emanzipation; Freud, Einstein, Spengler; in der Kunst Ismen aller Art; Auflockerung des Lebensstils ¸berall bis zum Chaos - ja, das war die alte Welt nicht mehr. Der Spielfilm, immer ein empfindlicher Seis- mograph f¸r Sehns¸chte und W¸nsche des Publikums einerseits, Wegbereiter neuer Ideen und Ausdrucksformen andererseits, feierte Triumphe: Wienes Kabinett des Dr. Caligari", Wegners Golem", Griffiths ,Broken Blossoms' mit der Gish, Chaplins ,Kid". Der Kulturfilm sah sidc, in seiner Auf- gabe, naturwissenschaftliche Themen allen Volksschichten durch hervorragende Verfil- mungen nahezubringen, von einer neu auf- tauchenden Filmgattung ernsthaft bedroht, deren leidenschaftlicher Verkunder der Eng- l"nder John Grierson war; der Tatsachenfilm, wie er ihn sah, sollte nicht einfach schildern und abkonterfeien, sondern das Leben inter- pretieren, das sein, was man heute unter ,Dokumentarfilm' versteht. Der erste Film, der weltweites Echo fand - und das ganz unbeabsichtigt -, war von Ro- bert Flaherty, in Michigan 1884 geboren. Vielleicht, daþ in ihm als Bergbauingenieur ein besonderes Verh"ltnis zu Natur und Tech- nik ausgepr"gt war - wir wissen es nicht; er sah alles, trotzdem er in Amerika auf- gewachsen war, mit britischer Bed"chtigkeit. Um 1920 schickte ihn die Neuyorker Pelz- firma Revillon in die Arktis, um einen Film ¸ber das Leben der Eskimos zu drehen. Fla- herty, obwohl er zehn Jahre im Norden ge- lebt hatte, tat, was vor ihm noch kein Film- mann getan hatte: er nahm sich Zeit und lebte monatelang als einer der ihren, teilte ihr Leben, ihren Hunger, ihre Wanderz¸ge, ihre Jagden. Er kehrte nie den alles besser wis- senden weiþen Mann heraus, er f¸gte sich, denn sie wuþten es besser. Flaherty filmte das Wesentliche, und es wurde-ungewollt- ein Drama, die Geschichte einer Familie, die nichts um sich hat als Eis und K"lte. Kein Verleih wollte den fertigen Film ¸bernehmen, aber dann wurde ,Nanook' zum Welterfolg - und der Dokumentarfilm geboren. Wenn auch der Schauplatz des n"chsten Films der Gegenpol zur Subarktis, die S¸dsee, war, so blieb er auch in diesem Werk "Moana' (1925) weiterhin Entdecker andersartig geschichteter Lebensmentali- t"ten, die so gar nichts mit Europa zu tun hatten. Mit dem deutschen Regisseur Murnau zusammen folgte 1931 ein weiterer S¸dseefilm, Tabu", der den Einbruch weiþer, habgieriger Gesch"ftswelt in das s¸dliche Paradies zum Thema hatte. W"hrend dieser Jahre ergab sich eines mit Sicherheit: Hollywood, als anerkannter Repr"sentant der Filmproduktion, und Flaherty paþten nicht zusammen. Er wandte sich nach experimentellen Farbfilmver- suchen nach Europa, vergrub sich in die Ein–de der Aran-Insel (1931-1934), die fels- zerkl¸ftet vom Atlantischen Meer um- brandet wird, teilte das Leben der Fischer und brachte die M"nner von Aran' heim. Wie immer waren seine Darsteller Laien- spieler: die Fischer, eine Frau und ein Knabe. Aber die Hauptrolle haben das Meer, das endlos daherrollt, der Sturm und die karge Erde, so karg, daþ sie in K–rben zusammengetragen werden muþ f¸r die Acker. Solche Filme hatte man bisher noch nie gesehen, die nach Wasser und Erde rochen, nach dem Ur. Nach einer kurzen Periode der Gemein- schaftsarbeit mit Grierson (,Industrial Bri- tain") verband sich Flaherty 1936 wiederum mit der Filmindustrie, diesmal war es Zoltan Korda, und mit ihm zusammen ent- stand in Indien Elephant Boy' - das war Sabu. Ende der dreiþiger Jahre wurden die amerikanischen Dokumentaristen durch den New Deal des groþen Roosevelt aus ihrer Reserve herausgeholt, Flaherty drehte 1942 f¸r das Landwirtschaftsministerium .Das Land". 1948 trat er mit seinem lange erwarteten, nun zum letzten Werk gewordenen Film "Louisiana story' (von der Shell Comp. finanziert, die ihm den Film nachher schenkte) vor die Offentlichkeit. Wieder ist es das M"rchen der Wirklichkeit eines unber¸hrten Landes, der Bayou-S¸mpfe an der M¸ndung des Mississippi. Da lebt ein Knabe mit seinem Waschb"r, seinem Ge- wehr, dem Fischereiger"t und seinem Boot inmitten von Lotusblumen und Sumpf- zypressen. In diesen Traum dringt eines Tages rauh eine Gesellschaft von 01- suchern mit knatternden Maschinen und Bohrern. Wenn einmal die Brutalit"t der Maschinen in die Stille eingedrungen ist, zieht sie die Menschen an, lockt, verspricht, wenn nicht dem Alter, dann der Jugend. Flaherty, in der Weisheit seines Lebens- Sp"tnachmittags, ¸berl"þt ihr das Feld. Inmitten der Vorarbeiten f¸r einen neuen Film, diesmal sollte er in Hawaii sogar plastisch gedreht werden, ist Robert Flaherty, der Vater des Dokumentarfilms, im Alter von 67 Jahren gestorben; sind die S–hne bereit, sein Erbe gut zu verwalten? Er hat einmal geschrieben: Wer heute einen Film von k¸nstlerischer Qualit"t produziert, darf nicht mit einem groþen Kassenerfolg rechnen. Der Publikums- geschmack ist durch die Massenproduktion von Kitsch gr¸ndlich verdorben." Und sein Kredo war: ",Am Ende ist alles eine Frage der menschlichen Beziehungen." M–gen sich die jungen Dokumentaristen das gut merken! Test: M. E. K"hnert. Fotos: AFI. 7
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