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Drews, Richard; Kantorowicz, Alfred, 1899- (ed.) / Verboten and verbrannt, deutsche Literatur 12 Jahre unterdrückt
([1947])
Alfred Polgar, pp. 135-136
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Page 135
uclreiben, weil niemand, der nicht dabel war, mir glauben wtirde. Die erste Feststellung, die ich machte, war die, daB der Antisemitismus bei der so- genannten deutschen Jugend weit ausgebreiteter ist, als man bei gr6oltem Pessimismius annehmen konnte. Nun, selbst das kann schliefflich eine Welle sein, die wieder einmal abebbt. Die zweite Feststellung war niederschmet- ternder diese sogenannte gebildete Jugend hat nichts gelernt und wird auch nichts mehr lernen, well sie ablehnt, Uberhaupt etwas anderes zu wissen als ein paar Phrasen. Zehntausende dieser jungen Leute leben von ein paar auswendig gelernten Leitartikelsatzen ihrer Zeitung. Zehntausende halten sich filr gebildet und fur allein berufen, dermaleinst eine Nation zu regieren, wenn es ihnen gelingt, mit fuinf aufgeschnappten Sentenzen den jiingeren Kommilitonen zu imponieren..,. ALFRED POLGAR 1in Meister der kleinen Form und einer bradhte der Rowohlt-Verlag einen Aue- der liebenswtirdigsten Theaterkritiker von wahlband Polgars: ,,Im Vorilbergehen". grazitbsem Witz. Ein Teil seiner Btlcher, - Aus dem wahrend des ersten Welt- so vor allem ,,An den Rand geschrie- krieges geschriebenen Skizzenbuoh des ben und .,Hinterland", wurden 1933 ver- ' 1875 in Wien Geborenen und jetzt in brannt. Im Exil entstanden u. a. zwel Hollywood Ansassigen bier eine Probe. neue Sammelbinde seiner erlesenen Der Band hie3: ,,KLEINE ZEIT" und er- Kleinkunst: ,,Der Sekundenzeiger" 'und schien bei Fritz Gurlitt; er zeigt Polgar als .In der Zwischenzeit". Vor einiger Zeit .einen tiberlegenen satirischen Polemiker. Die leitenden Staatsmanner und Generale tlbernehmen ,,die Verant- wortung" fur das Schicksal, das sie den Volkern auferlegen. Aber was heift in diesem Fall: Verantwortung? Einer ungeheuren Verantwortung mifi~te doch ein ungeheures Risiko dessen entsprechen, der sie tibernimmt. Ein unterernahrter, mildegearbelteter Motorfflhrer, der durch ungeschick- tes Lenken seines Wagens ein Malheur anrichtetf, wird eingesperrt. Was geschieht dem Staatsmann, der durch ungeschicktes Lenken des Staatswagens ein Malheur anrichtet? Er geht in Pension. Wenn durch des Motorftihrers. Verschulden eln Mensch getdtet wird, wandert der Motorfuhrer auf Jahre ins Gefa.ngnis. Wenn der Feldherr nutzlos, erfolglos Zehntausende seiner Soldaten in den Tod geschickt hat, was erwartet ihn? Ein Hauschen im Cottage. Dort pflanzt er, in einem verschnflrten Samt- rock und das Kappi auf dem Haupt, Rosen. Seine Lieblingssorten. Und schreibt Mentoiren. ,,Ich uibernehme die Verantwortung", sagt der Minister Soundso. Vor der Grfl3e und dem kiihnen Stolz dieses Wortes erbleichen die Zeitgenossen. Aber es steckt gar nicht das Geringste dahinter. Verantwortung ohne Sulhne, deren Ungeheuerlichkelt der Ungeheuerlich- keit jener entsprache, ist ein leeres Wort. Den Motorfuhrer richten die Gerichte. Den Staatsmann und den General richtet die Geschichte. Sie iiberlassen ihr - so sagen sie im kritischen Fall- ,,ruhigen Herzens das Urteil" l
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