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Drews, Richard; Kantorowicz, Alfred, 1899- (ed.) / Verboten and verbrannt, deutsche Literatur 12 Jahre unterdrückt
([1947])
Gertrud von le Fort, pp. 40-41
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das. Sle hoben beschw6rend zu lhm die HEnde. Er verstand sie nicht, hielt sie fir Phantasten. Er trennte sich und Deutschland vom europaiischen Geist. Weder er noch seine Nachfolger fanden zurick. Doch hatte Bismarck unter seinen Gaben einer unerhbrten Herrschkunst die der MaBigung. Nach ihm aber begann die MaBlosigkeit, erst unter Wilhelm II., dann nach der Er- sch6pfungspause der 15 Jahre, unter Hitler. Auch nach der Niederlage von 1918 erlangten, nach einem kurzen Anlauf der Deutschen auf der Verbindungs- brUcke zur Umwelt, die militarischen Krafte wieder die Oberhand. Sie ver- ftihrten das deutsche Volk in jenen Kampf gegen Versailles, der 1945 geendet hat. Bedarf es eines Wortes, daB nicht nur das Ausland, daB wir selbst in tiefster Erkenntnis unseres seelischen Schadens eine neue Gesinnung fordern? Wahr- haftigkcit allein macht frei. Wahrhaftigkeit laBt uns jedem Richter und Racher der Hitlergreuel auf der Ebene von Mensch zu Mensch ins Auge sehen. Wahrhaftigkeit lait uns ertragen, was ertragen werden muB ohne Geschimpfe und ohne Anklage da, wo wir fur die Erhaltung des nackten Lebens Dank schuldig sind. Unseren Weg vorwarts wissen wir. Wir waren nie von einer Welt von Widersachern und Neidlingen umgeben, wie man uns glauben machte. Wir hatten Gerneinschaft mit den Beargw6hnten finden konnen. Wir k6nnen jetzt Gemeinschaft finden, wenn wir aus jenem geistigen Vorrat nehmen, der in Deutschland vor Bismarck gesammelt wurde. GERTRUD VON LE FORT 1876 In Minden geboren. Eine katholische Veronika", ,,Die Letzte am Schafott", Dichterin von bannender Gestaltungskraft; ,Die Magdeburgische Hochzeit", ,,Das Ge- ihre Romrane, Novellen und Legenden, richt des Meeres" usw.) Aus ihrein vor zundchst noch vom Dritten Reich gedul- kurzem vom Michael Beckstein Verlag, det, doch nach und nach alle gesperrt, MtInchen, neu aufgelegten Roman ,DER erheben sie in den Rang einer europai- KRANZ DER ENGEL" geben wir einen Ab- schen Dichterin. (,,Das Schwei~tuch der schnitt wieder, der ihre Prosakunst zeigt: Wenn ich nachts im Halbschlaf dalag - und ich brachte es fast nie mehr zum wirklichen Schlummer-, so war mir zumut wie einst, als ich an Enzios Seite durch das schlafende Rom gegangen war, losgelbst von mir selber, allen Witterungen und Schauern seiner Welt hilflos preisgegeben. Jetzt ging ich durch das schlafende Deutschland! Aber es war nicht mehr meine traute Heimat, das Land der schwarmerischen Walder und der wundervollen alten Stadte, der feierlichen Dome aus dem liebevollen deutschen Stein erbaut! Zwar sie alle waren wohl noch da, aber so, als seien sie unaussprech- lich fragwtirdig geworden. Ich erkannte die ergreifenden Umrisse von Speyer, die freundlichen D6rfer in den weichen Schwingungen des Neckartals, die beiden ritterlich behelmten Tuirme der schbnsten aller Brtcken. Aber alles war seiner Gegenwartigkelt schon halb entkleidet, seltsam ungewiB, so, als k6nnten jeden Augenblick die Gebaude auseinanderfallen oder ihre Dacher aufgehoben werden. Manchmal sah ich alle Hduser nur noch als Ruinen - ich sah mich selbst wie eine kleine, entseelte Gestalt um ihre Trtimmer huschen. Auch die Walder hatten ein gespenstisches Aussehen und dampften wie von einem fremden Todesrauch. Es lag etwas Grausiges in 40
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