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Drews, Richard; Kantorowicz, Alfred, 1899- (ed.) / Verboten and verbrannt, deutsche Literatur 12 Jahre unterdrückt
([1947])
Hermann Broch, pp. 29-30
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Inneren aufzuzwingen vermocht hat, in der er selber leldenschaftlich existlert ? Wo findet sich ein zweites Mal der Klassiker einer Nation, der in seinem siebenten grolen Werke die Gesetze seiner Sprache noch nicht beherrscht, der Grammatik so wenig sicher ist wie des Geschmackes und dennoch eine neue Epoche eben dieser Sprache, eine neue Wendung des Geschrnacks grol3- artig erzwungen zu haben und zu erhalten sich ruhmen darf? Wo noch einmal ein Dichter und Kiinstler, der fast nirgends seine Gattungen erfillt, der fast aul~erstande ist, zehn Verse hintereinander zu formen, in denen das Ohr oder der Nerv des reizbaren Lesers nicht gequalt oder emport wurde - durch Ungeschicklichkeiten, durch Kindlichkeiten - durch Unreines und Gewohnliches, durch das Mallose der Unsicherheit, durch falsche Musik oder durch holzernen Millkiang - und der dennoch den Ruhin, Form und Musik, Reinheit und Fehllosigkeit, Geschlossenheit und Einheit dei Wirkung auf eine im Deutschen unerhbrte Hohe gehoben zu haben geniel3t und freilich in einem ungewohnlichen Sinne in Anspruch nehmen darf? Wunderliche, absurde, be- unruhigende Fragen, auf die es keine Antwort gibt als die, daB eine grolle Seele das allerdings vermocht hat und daB sie Berge versetzen kann, wenn die mit dem Gottlichen der Zeit im Bunde ist. HER-MANN B1ROCH Autor des grol3en dreibandigen Romans Vergil'. Broch wirkte an der Universitdt ,,Die Schlafwandler", der 1932 im Rhein- Princeton und entwickelte neue Theorien Verlag erschien. 1938 emigrierte Broch auf aut dem Gebiet der Massenpsychologie. Umwegen nach den USA; dort schrieb er - Aus dem Roman ,,DIE SCHLAF- den historischen Roman ,Der Tod des WANDLER" bringen wir einen Absdi-nitt: Als man den Maurer und Landwehrmann Ludwig Gbdlcke aus dem ver- schutteten Graben herausbuddelte, war sein zum Schreien gebffneter Mund mit Erde angeftillt. Sein Gesicht war blau und schwarzlich, und der Herz- schlag war nicht zu finden. Hhitten die beiden Sanitatssoldaten, die ihn in die Hande bekamen, nicht uber seinen Tod und scin Leben eine Wette ab- geschlossen, so ware er kurzerhand wieder begraben worden. DaB er die Sonrie und die besonnte Welt aufs neue sehen sollte, verdankte er jenen zehn Zigaretten, die den Siegespreis der Wette gebildet hatten. Mit der kuinstlichen Atmung kamen die beiden zwar nicht ganz zurecht, obwohl sie sich heftig abmiihten und schwitzten; aber sie nahmen ihn mit und bewachten ihn gut, beschimpften ihn auch ofters, weil er das Ratsel seines Lebens, das hier das Ratsel seines Todes war, nicht und nicht offen- baren wollte, und sie liel3en nicht ab, ihn den Arzten zuzuschleben. So lag das Objekt ihrer Wette vier Tage lang im Feldlazarett, lag unbeweglich und mit schwarzer Haut. Ob wahrend dieser Zeit ein Gefuihl letzten schhum- mernden kleinen Lebens geglimmt haben michte, ob dieses winzige Leben unter Schmerz und Alpdruck durch die Ruine des Korpers gejagt worden war, oder ob es ein leises und begluckendes Pochen am Rande eines grol3en Abgrunds gewesen, das wissen wir nicht, und der Landwehrmann Godicke hatte nicht die Moglichkeit gehabt, daruber Auskunft 2u erteilen. Denn nur stuckweise, sozusagen halbzigarettenweise, trat das Leben in seinen Korper, und diese Langsamkeit undi diese Vorsicht waren zweck- entsprechend und naturlich, denn der zerquetschte Korper verlangte nach liul3erster Regungslosigkeit. Viele lange Tagp duirfte Ludwig Godicke sich
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