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Drews, Richard; Kantorowicz, Alfred, 1899- (ed.) / Verboten and verbrannt, deutsche Literatur 12 Jahre unterdrückt
([1947])
Max Brod, pp. 30-31
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fUr' das Wickelkind gehalten haben, das er vor vierzig Jahren gewesen war, eingeschnurt von einem unbegreiflichen Zwang und nichts fuhlend als diesen Zwang. Und wenn er die Fahigkeit dazu gehabt hatte, er hatte wohl nach der Milchbrust der Mutter gegreint, und tatsaichlich kam dann auch bald eine Zeit, in der er zu wimmern anhob. Es begann wahrend des Trans- portes und war wie das wehe unablassige Wimmern eines Neugeborenen anzuhoren; keiner wollte neben ihm liegen, und eines Nachts hatte ein Bettnachbar sogar etwas nach ihm geworfen. Es war die Zeit, in der man glaubte, daf3 er schlieBlich werde verhungern intssen, da es fir die Arzte keinerlei Moglichkeit gab, ihm Nahrung einzuflo3en. DaBl er weiterlebte, war unerklarlich, und die Meinung des Oberstabsarztes Kuhlenbeck, es hatte der Korper von all dem unter die Haut gequetschteil Blute gelebt, verdient kaum den Namen einer Meinung, geschweige denn den einer Theorie. Besonders der Unterleib war arg hergenommen. Man machte ihm ktihle Packungen, doch ob sie ihm Linderung brachten, das war nicht zu erkennen. Ja, vielleicht litt er gar nicht mehr so arg, denn das Wimmern verstummte allmahlich. Bis es nach emnigen Tagen verstarkt wieder hervor- brach: es war jetzt - oder man kann sich vorstellen, dal3 es so war -, als wiirde Ludwig Godicke die StUcke seiner Seele bloB einzeln zurflck- erhalten und als wurde ihm jedes etnzelne auf einer Woge von Qual einher- geschwemmt. Und es mochte wohl so gewesen sein, mul3 es auch unbe- statigt bleiben, daB der Schmerz einer in Atome zerrissenen und zerstaubten Seele, die wieder In die Einheit gezwungen wird, grol3er ist als jeder andere Schmerz, arger als die Schmerzen des Gehirns, das von stets erneuten Krampfwellen durchzittert wird, arger als alle korperlichen Qualen, die den ProzeB begleiten. So lag der Landwehrmann G6dicke auf luftgeschwellten Kautschukrlngen in seinem Bette, und wahrend man seinen ausgemergelten Leib, dem anders kaum beizukommen war, nun langsarn Nahrklismen einlaufen liel3, ver- sammelte sich seine Seele, unverstandlich dem Oberstabsarzt Kuhlenbeck, unverstandlich dem Oberarzt Flurschutz, unverstandlich der Schwester Clara, versammelte sich seine Seele qualvoll urn sein Ich MAX BROD 1884 in Prag geboren, Entdecker Werfels, Iebt seft 1939 in Tel Aviv und ist jetzt Freund und Nschlaitverwalter Franz Kaf- auch als Komponist tatig. Brod arbeitet kas, erschien 1933 auf der ersten Nazi- gegenwartig an einem Gaiilei-Roman: Liste verbotener und verfemter Literatur. ,,In tyrannos". Im Exil entstanden eine Aufler Romanen: .,Tycho Brahe"' .,Leben Heine-Biographie und der Roman ,Die mit einer Gottin", ,,Die Frau, nach der Frau, die nicht enttauscht". - Aus einem, man sich sehnt", .,Rubeni" usw. schrieb seinerzeit erschienenen Essay fiberHAUPT- Brod Essays und geftihistiefe Verse. Er MANNS FRAUENGESTALTEN: Hauptmanns Frauentypus: - Man halt Im allgemelnen Frauen vom Typus Carmen fMr besonders gefahrlich. Oder Wedekinds Lulu. Ich per- sonlich finde die Unterstrichenheit und Eindeutigkeit der sogenannten ,,da- monischen" Frau, die zerstorend, hemmungslos geradeaus stiirmt, grenzen- los langweilig. Etwas von der Routine des Gewerbes verdunkelt noch die stolzeste dieser Gestalten. Die enfach durchschaubare Richtung ins Negative, Ltsterne, LUgnerische, Katzenhafte wird leicht erlebt und abgetan. Es ist unwahr, dal3 Frauen solcher Art eine Gefahr sind. - Wie anders lockt jene
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