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Aufwärts
Jahrgang 20, Nr. 7 (July 15, 1967)
Kretschmer, Dieter
Chemie-Jugend in Polen, p. 5
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unter sachkundiger und charmanter Führung. Eine Dame, die den zweiten Weltkrieg noch erlebt hat, zeigt uns die Schönheiten der Stadt. Dabei erfahren wir dann auch in völlig sachlichem Ton und ohne Polemik, daß die Faschisten diese Stadt Haus für Haus nach einem perfekten Plan in die Luft gesprengt haben. Sehenswürdigkeiten und histo- rische Stätten, so die Altstadt, wurden völlig nach alten Plänen wieder errichtet. Auf dem Gelände des ehemaligen Gettos, heute stehen dort moderne Wohnblocks, erfahren wir, daß die Faschisten um die- sen Stadtteil eine Mauer gezogen, alle Warschauer Juden dort hingebracht haben und nach dem Gettoaufstand die Häuser mit Benzin übergossen und ver- brannt haben. In den Häusern befanden sich 400000 Männer, Frauen und Kinder. Die Tatsache, daß es sich um deutsche Faschisten handelte, die dieses undenk- bare Verbrechen begangen haben, läßt uns daran zweifeln, ob wir hier eine Mission entsprechend den Richtlinien des DGB-Bundesvorstandes erfüllen können und sollen. Ober eins sind wir uns einig, daß wir alles tun wollen, um das Wiederkehren solcher Barbarei zu verhindern. Dazu gehört vielleicht auch die Toleranz, zu respektieren, daß andere Völker eine andere als unsere Ordnung für die dem Menschen angemessene halten. Am Nachmittag des letzten Tages in Warschau hatten wir Gelegenheit, mit dem Chefredakteur einer Gewerkschafts- zeitung zu diskutieren. Grundlage der Polnische Jugend Warschau und an anderen Orten Polens jedes Presseerzeugnis der Welt, auch die der Vertriebenenverbände der Bun- desrepublik, kaufen kann. Wenn wir uns nach längerer, sehr heftiger Diskussion mit diesem durch seine Erfahrung ge- prägten Mann in Freundschaft verab- schieden konnten, so nur deshalb, weil wir nicht den Versuch gemacht haben, Dinge, die es nicht wert sind, zu ver- teidigen. Eine sehr interessante Diskussion hatten wir beim Vojvodschaftsrat der Gewerk- schaften in Krakow. Dort hatten sich zehn Kollegen eingefunden, um zunächst unsere Fragen zu beantworten. U. a. der Leiter der Propaganda-Abteilung, ein Jugendsekretär und der Bezirksvorsitzen- de der Chemiegewerkschaft. Diskussionen Die anderen Kollegen waren junge Funktionäre aus einem Betrieb. Wir nutzen diese Chance, um etwas über evtl. Beteiligungsrechte der Arbeitneh- mer an betrieblichen und wirtschaftlichen Entscheidungen zu erfahren. Da gibt es gleich zwei Instanzen, erstens die Be- triebsgewerkschaftsleitung, die von den Gewerkschaftern des Betriebes gewählt wird. Ihr kommt etwa die Funktion zu wie sie bei uns Betriebsräte haben. Ilhre Kompetenz läßt sich vielleicht mit dem Begriff ,Mitwirkung" charakterisieren. Echte Mitbestimmung gibt es nach einem reicht nicht aus, um festzustellen, was hier Ideologie und was gesellschaftliche Wirklichkeit ist. Als wir an dieser Stelle hartnäckig bleiben, werden wir nach der Wirklichkeit in der Bundesrepublik be- fragt. Man will wissen: Warum kann ein ehemaliger Nazi Bun- deskanzler werden? Welche Rolle spielt Strauß und warum spielt er überhaupt noch eine? Welche Rolle spielen die Vertriebenen- verbände? Was ist mit Seebohm, Globke und Oberländer? Wie steht ihr zur Oder/Neiße-Grenze? Welche Rolle spielt die NPD, warum kann sie überhaupt eine spielen? Warum ist die kommunistische Partei in der Bundesrepublik verboten? Wie steht ihr zum Faschismus? Warum erkennt ihr die DDR nicht an? Berechtigte Sorgen Diese Fragen werden zum Teil in einem sehr polemischen Ton gestellt. Bei einer längeren Diskussion konnten wir aller- dings ehrliche, zum Teil auch berechtigte Sorge erkennen. Wir stellten fest, daß die polnische Jugend sehr lebendig mit ihrer Geschichte lebt, und mußten zugeben,daß sie die Weigerung der Bundesregierung, Polens Westgrenze zu garantieren, sehr beunruhigen muß. Nach ihrer Erfahrung mit dem Faschismus ist es auch ver- Foto: Tadeusz Rolke man die Geschichte aus dem Bewußtsein verdrängt. Er verpflichtet die Jugend, den Ursachen dieser Unmenschlichkeit und des Fa- schismus auf den Grund zu gehen. Er verpflichtet sie zuý unerbittlichem Kampf gegen alles, was Spuren der Intoleranz und des Faschismus zeigt Mit dieser Erkenntnis zieht man weiter. Wir fuhren nach Katowice und von da durch die fruchtbare Landschaft Schle- siens über Breslau der Grenze zwischen Polen und der DDR entgegen. Fazit Sieben Tage Aufenthalt sind zu wenig, um mehr als flüchtige Eindrücke von einem Land und seiner Bevölkerung zu sammeln. Es gibt kaum jemanden in unserer Gruppe, der nicht das Bedürfnis hätte, noch einmal in dieses Land zu fahren, um mehr von den Problemen seiner Bevölkerung zu erfahren. Alle ge- meinsam sind auch ein wenig beschämt von der Gastfreundschaft, mit der man uns trotz unserer so grausamen gemein- samen Geschichte bedacht hat. Beherrschend ist die Erkenntnis, daß das gegenseitige Kennenlernen der Jugend aller Völker trotz unterschiedlicher Auf- fassungen eine der wesentlichsten Vor- aussetzungen ist, sich nie mehr auf den Schlachtfeldern zu begegnen. Dieter Kretschmer
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