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Aufwärts
Jahrgang 16, Nr. 10 (October 15, 1963)
Schwab-Felisch, Hans
Das Lied vom braven Mann, p. 24
Page 24
H och klingt das Lied vom braven Mann. Das ist, meine Damen und Herren, eine literarisch verbriefte Schulweisheit, von deren Erfüllung im praktischen Leben wir nicht allzu heftig träu- men sollten - um nicht selbst zu lebensfremden Träumern zu werden. Das Lied vom braven Mann wird nämlich meist erst gar nicht ge- sungen. Mörder haben es da - leider - bekanntlich leichter. Sie sind der Öffentlichkeit interessanter. Schon deswegen, weil sie - gottlob - noch immer in der Minderzahl sind. Bisweilen aber sollten wir uns des Typus' <braver Mann" dennoch erinnern. Schon - um in uns selbst ein Gegengewicht zu schaffen. Um dessen innezuwerden, daß es den braven Mann noch immer gibt. Ihn immer gegeben hat. Selbst in Zeiten, da <brav" - also doch wohl nur: tapfer zu sein, einiges Risiko in sich barg. a lesen wir dieser Tage von einem Manne, der seit zehn Jahren tot ist und dessen braver Bürgersinn erst heute ans Tageslicht gekommen ist. Die Rede ist von einem Oberleutnant der Deutschen Wehrmacht, der es 1942 in Przemysl unternahm, einer SS-Einheit mit Waffengewalt entgegenzutreten, die sich anschickte, eine Gruppe todgeweihter Juden abzuführen, die als Arbeitskräfte seiner Einheit zugeteilt waren. Der Oberleutnant ließ eine Brücke, über die der Zug geführt werden sollte, von seinen Maschinengewehrposten blockieren. Er gab Befehl, ge- gebenenfalls auf die Bewachungsmannschaft der Juden zu schießen. Nun - es ist zu einem Gefecht zwischen den Soldaten des Ober- leutnants und den SS-Bewachungsmannschaften nicht gekom- men. Die SS zog sich zurück, als sie den Weg versperrt sah. Es ist aber dem Oberleutnant auch nicht gelungen, die einmal be- schlossene Ermordung der Juden zu verhindern. Sie mußten ihren Todesmarsch später dennoch antreten. Aber es ist- und dies sollte uns zu denken geben - dem Oberleutnant kein Haar gekrümmt worden. Er wurde <gerügt" und zu einer Fronteinheit versetzt. Mehr nicht. Freilich auch nicht weniger. Sein Name ist Dr. Albert Battel. Der Fall kam zur Sprache, als in Kiel gegen den ehemali- gen SS-Sturmbannführer Fellenz verhandelt wurde. s ist vielleicht gut, meine Damen und Herren, sich dessen wie- der bewußt zu werden, daß es selbst in der unerbittlichen Despotie gelegentlich Grenzen gibt, auf die sie sich zurückgewor- fen sieht, wenn ihr ein <braver" Mann entgegentritt. Nicht, daß ein einzelner etwas Entscheidendes gegen sie bewirken könnte: Wir wollen uns da nichts vormachen. Wohl aber ist es dem ein- zelnen gegeben, sich ein halbwegs gutes Gewissen gegen sich selbst zu bewahren, indem er sich eine Grenze setzt, an der das Mitmachen, zu dem er als Staatsbürger immer zu einem gewissen Grade gezwungen sein wird, halt zu machen hat. Man soll dieses <Halt" nicht allzu hoch ansetzen. Man soll nicht verlangen, daß ein jeder ein Held sei. Man soll aber doch das Be- wußtsein wachhalten und wecken, da, wo es nötig ist, daß es für jeden einen solchen Punkt gibt. Jeder von uns ist damals in Situationen geraten, in denen er - ohne ein tödliches Risiko ein- zugehen - darüber zu befinden hatte, ob er späterhin-sich selbst im Spiegel würde ansehen können. W ir wollen uns nicht falsch verstehen. Hier soll nicht Moral gepredigt werden. Aber die Gesellschaft des industriellen Zeitalters verlangt einfach vom einzelnen, daß er sich seiner selbst bewußt werde. Kein Kaiser, kein König, keine Elite mehr und nicht einmal ein Gott, der dem einzelnen die letzten Entschei- dungen abnähme. D eshalb ist auch das Plädoyer für die Feigheit, das ein Publizist der jüngeren Generation unlängst in Köln gehalten und bald darauf in einer Zeitschrift veröffentlicht hat, so töricht und schief. Nicht etwa deswegen, weil es sich gegen einen falschen Herois- mus wendete, der noch dazu vielfach von Leuten gefordert wird, denen eine solche Forderung nicht wohl ansteht. Sondern, weil es mit der Ehrlichkeit kokettierte und all denen ein Alibi ver- schaffte, die heute wiederum nicht bereit sind, den Spielraum der Freiheit zu nutzen, den ihnen die Demokratie offenhält. Diesmal, im Gegensatz zur Despotie, übrigens ganz ohne jede Gefahr für Leib und Leben. as ist es, meine ich, was wir von dem Oberleutnant Battel lernen können und sollten: Ein jeder sollte - an seinem Platze- erkennen, welcher Freiheitsraum ihm gegeben ist. Und: er sollte ihn nutzen. In früheren, weniger komplizierten Zeiten, hatte man dafür einen ganz einfachen Ausdruck: Man sollte seinem Gewis- sen folgen. Wer immer dies tut, bewirkt eine kleine, kaum spür- bare Veränderung zum Guten. Aber auf sie käme es an. (Dieser Beitrag wurde vom Westdeutschen Rundfunk gesendet.)
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