Page View
Aufwärts
Jahrgang 16, Nr. 10 (October 15, 1963)
Wange, Willy B.
Märchen und Tatsachen, pp. 16-18
Page 16
Märchen und Tatsachen Eine Reise durch Marokko, ein Land, das seinen Weg in eine bessere Zukunft sucht / Von Willy 5. Wange A ls es soweit war, hatten wir den .großen Augenblick" verpaßt Zuvor hatte jeder den Ehrgeiz gehabt. als erster den afrikani- schen Kontinent am Horizont zu entdecken. Doch eineinhalb Tage vergeblichen Wartens kurz vor der Erfüllung eines jahrzehnteaten Jugendtraums ist dann plötzlich eine zu lange ZeLt. So ertönte der Ruf: ~Afrika in Sicht" ungehört, weil unter Deck im Salon der Luxus- klasse das obligatorische Bordfest stieg. Man war an Bord der ,Lyautey" nicht kleinlich. Wer nur Touristenklasse gebucht hatte, durfte mittwisten, ganz gleich, ob er weiße, braune oder schwarze Hautfarbe hatte. Wer aber in den Schlafsälen tief unten im Bauch des 10000-Tonners, der von Marselle bis hinunter zum Senegal dampft, wohnte, der hatte zu der Lustbarkeit mit Paplermützen und Luftschlan- gen keinen Zutritt Die Häuptlingsfrau vom Senegal, die mit ihren zwei Zentnern, ihrem langen,bunten Gewand und dem gelbenTurban so majestätisch aussah, wäre selbst von den Afrikanern der Luxusklasse an Bord nicht akzeptiert worden. Ein wenig nachdenklich stimmte diese erste Begegnung mit den Problemen Afrikas. Den europäischen Kolonialsmus haben diese Men- schen endlich abgeschüttelt. Ihre Freiheit aber scheint nicht zugleich die Gleichheit und die Brüderlichkeit zu bedeuten. Man tauschte alte Vorurteile, alte Kasten gegen neue. Der Maß- anzug des heimkehrendr- schwarzen Studen- ten ist eine klare Abgrenzung gegenüber der Djelabe (ein langes, hemdartiges Gewand), der man ansieht, daß sie in einem billigen Gäßchen der Kisserla von Marrakesch erstan- den wurde. So ist man schon mitten in den Problemen Marokkos, ehe das Schiff nach zweitägiger erholsamer Fahrt in Casablanca anlegt Casablanca sparten wir uns für den Schluß der Reise auf. Es drängte uns, tiefer ins Land zu kommen, wo mehr von Marokko, mehr von Afrika zu sehen und zu spüren wäre, als in dieser Hafenstadt mit ihren weißen Hochhäu- sern und breiten Boulevards. In Rabat der Hauptstadt und Residenz des Königs, hatten unsere Gastgeber, das Ministe- rium für Jugend und Sport, vor den ersten Schritt in <das Abenteuer Afrika" den Schweiß der Theorie gesetzt. Aber ohne diese Theorie läuft man Gefahr, an den Problemen vorbei- zugehen. Andererseits tut man in Marokko gut daran, wohl aufmerksam zuzuhören, aber nichts zu glauben, was man nicht selbst sieht oder des- sen Wahrheitsgehalt durch ergänzende Be- richte aus anderer Quelle bestätigt ist. ,.Mohammed lügt", sagte Ich scherzhaft zu unserem marokkanlschen Führer. Aber schon bald mußten wir erkennen, daß man in Marokko nicht mehr lügt als bei uns. Zumindest nicht bewußt. Aber, wer auf den Plätzen der Medina (die alten Stadtviertel) die Andacht erlebt hat, mit der die ihn umringenden Zuschauer einem Märchenerzähler lauschen; wer hörte, wie groß die Zahl dieser so beliebten Märchen- erzähler ist, die mit einem geradezu unglaub- lichen Talent aus dem Stegreif ihre Geschich- ten zum besten geben, dem wird klar, daß in jedem Marokkaner ein Stück Märchenerzähler steckt. Harmlos, aber bezeichnend die Sache mit Lud- wig dem XIV. und dem Fahrrad. In den Kase- matten des Bodj El Heri Mansour zu Meknes stehen drei Vehlkel aus der Zeit der Großväter des Fahrrads. Ein Zweirad, ein Dreirad und sogar eines mit vier Rädern. Immerhin, sie sind schon mit Ketten und Zahnrädern ausge- stattet Der amtliche Fremdenführer war un- angenehm berührt, daß wir ihm nicht glauben wollten, daß diese Räder ein Geschenk Lud- wig. des XIV. von Frankreich an den damaligen Sultan gewesen sei. Als wir zu bedenken ga- ben, daß der Freiherr von Dreie erst nach dem Tode Ludwigs des XIV. sein doch noch recht primitives Tretrad erfunden habe, verschwand er kurz, kam zurück, entschuldigte sich und erklärte, selbstverständlich handete es sich um Ludwig den XVI. Nun, wir wollten noch mehr von diesem interessanten Land sehen, darum sagten wir nichts davon, daß der Kopf eben jenes Ludwige bereits 1793 gerollt war, wäh- rend die Draieine 1817 das Licht der Welt er- blickte. Es war halt so schön, das Märchen von dem Fahrrad, Ludwig dem XIV. oder XVI. und dem Suiten. Und so war manches ein Märchen, was man uns als Tatsache hinstellte. ~Die Gesundheitaverhältnisse meiner Stadt sind ausgezeichnet", sagte uns der Gouver- neur von Rabat. Und er mußte es wissen, denn er ist selbst Arzt. ,Wir haben kein Arbeite- losenproblem", sagte er weiter. Dabei sind Augenkrankheiten, bösartige Kopfgrätze, Ver- krüppelungen von Geburt in einem erschrek- kenden Maße verbreitet, wovon man sich auf Schritt und Tritt überzeugen muß. Auch die Tatsache, daß 55 v.H. der marokkanischen Bevölkerung unter 20 Jahre alt ist, spricht klar für eine erschreckend hohe Sterblichkeitsziffer, nicht aber für einen beruhigenden Stand der Volksgesundheit. Um sich davon zu überzeu- gen, daß Rabat, genauso wie ganz Marokko, ein drängendes Problem der Arbeitslosigkeit hat, brauchte man nur aus dem Fenster des Gouverneurapalastes zu schauen. Dort dräng- ten sich Im Schatten seiner Mauern und der herrlichen Palmen die Arbeitslosen. Bei dem auf einem marokkanischen Empfang unumgänglichen Minthe, einem süßen Tee, in dem eine grüne Pfefferminzpflanze schwimmt, bei Gebäck, dessen feiner Staubzucker sich heimtückisch auf der Hose niederließ, hatte uns der Gouverneur ein Märchen erzählt Dabei scheute er sich nicht uns mit einer an- deren Wahrheit zu schockieren. Auf die Frage, wie und von wem die Stadt regiert werde, weiche Befugnisse das gewählte Stadtparla- ment habe, lächelte er: ,Der Vertreter des Königs bin ich. Ich höre mir interessiert an, was die Stadträte sagen. Was gemacht wird, das bestimme aber ich... 1 So waren wir bei einem Gläschen Tee auf eines der einschnei- dendsten Probleme dieses Landes gestoßen. König Hassan hat mehr Macht und An- sehen als andere Monarchen unserer Zeit. Schließlich gelang es seinem Vater, dem Lande Selbständigkeit und Unabhängigkeit von Frank- reich und Spanien zu erreichen. Das ist erst sieben Jahre her und darum noch unverges- sen. Andererseits aber ist der König zu stark auf die Unterstützung der alten Oberschicht
This material may be protected by copyright law (e.g., Title 17, US Code).| For information on re-use see: http://digital.library.wisc.edu/1711.dl/Copyright