Page View
Aufwärts
Jahrgang 8, Nr. 20 (September 29, 1955)
Becker, Jürgen
Zeitzeichen, p. 6
Page 6
en er in, ei- Ils rn Prischibejew, ein verrunzelter Unteroffizier mit stacheligem Antlitz, nimmt, die Hände an den Hosennähten, Haltung an und erwidert mit heiserer, geradezu abgewürgter Stimme, jedes Wort besonders markant betonend, als wenn er kommandiere: ,Euer Hochgeboren, Herr Friedensrichter! Nach allen Artikeln des Gesetzes kommt es also auf den Grundsatz heraus, jeden Um- stand gemäß der wechselseitigen Wirkung zu attestieren. Schuldig bin nicht ich, sondern alle die anderen. Die ganze Geschichte resul- tiert aus einem toten Leichnam, das Himmel- reich sei sein. Da ging ich also am dritten dieses mit meiner Frau Anfissa ruhig und wohlgeboren spazieren und sah, am Ufer stand ein Haufen von verschiedenem Volk. Mit welchem vollen Recht hat sich hier Volk versammelt? - so frage ich. Und warum? Denn steht etwa im Gesetz geschrieben, daß das Volk in Rudeln anzutreten hat? Ich schreie: Auseinandertreteni Ich begann das Volk aus- einanderzustoßen, auf daß man sich nach Hause begeben möge, und ich befahl dem Polizeiaufseher, sie wegzuprügeln...> <Erlauben Sie mal, Sie sind doch weder Poli- zeiwachtmeister noch Gemeindeältester, ist es denn Ihre Sache, das Volk auseinanderzutrei- ben?« .Nicht seine Sache1 Nicht seine!" ertönen Stimmen aus den verschiedenen Ecken des Sitzungszimmers.<Es ist mit ihm nicht auszu- kommen, Eurochgeborenl Schon seit fünfzehn Jahren haben wir unter ihm zu leideni Seit er den Dienst verlassen, Ist es, daß man aus dem Dorf davonlaufen möchte. Er hat alle tot- gequält !" <Genau so verhält es sich, Eurochgeboreni" spricht der emeindeälteste, der als Zeuge auftritt.<Die ganze Dorfgemeinde klagt über ihn. Mit ihm auszukommen ist einfach unmög- lichi Ob wir mit den Heiligenbildern um- ziehen, ob es eine Hochzeit ist, oder nehmen wir irgendeinen anderen Fall an, überall schreit er und lärmt und sucht seine Ordnung einzuführen. Den Kindern zieht er die Ohren lang, hinter den Weibern schaut er her, daß nur ja nichts passiere, wie wenn er aller Welt Schwiegervater wäre... Neulich, da ging er von Haus zu Haus und befahl, daß keine Lieder mehr gesungen und daß kein Licht mehr gebrannt würde. Es gäbe keine Vor- schrift, sagte er, daß Lieder gesungen werden dürften.« <Warten Sie ab, Sie werden schon noch Ge- legenheit finden, Ihre Aussage zu machen", wirft der Friedensrichter ein: <Mag jetzt Prischibejew fortfahren. Fahren Sie fort, Prischibejewi" .Zu Befehl!" krächzt der Unteroffizier.<Sie geruhen, Euer Hochgeboren, zu sagen, es sei nicht meine Sache, das Volk auseinander- zujagen... Schon recht... Wie aber, wenn es zu Unordnungen kommt? Kann man denn zu- lassen, daß das Volk Unfug treibt? Wo steht das im Gesetz geschrieben, daß man dem Volk seinen Willen lassen soll? Das kann ich nicht zulassen. Und wenn ich sie nicht auseinander- treibe und nach dem Rechten schaue, wer wird es dann tun? Es kennt niemand die wirklichen Vorschriften, im ganzen Dorf bin ich esallein, kann man sagen, Euer Hochgeboren, der weiß, wie man mit Leuten einfachen Standes um- geht, und, Euer Hochgeboren, ich weiß alles richtig anzufassen. Ich bin kein Bauer, ich bin ein Unteroffizier, ein Zeughausaufseher a. D., ich habe in Warschau gedient, im Stab näm- lich, und als ich dann, müssen Sie wissen, Ins Zivilleben überging, war ich bei der Feuer- wehr, hierauf aber mußte ich infolge Schwäche meiner Krankheit aus der Feuerwehr aus- treten und habe zwei Jahre im klassischen Progymnasium für Knaben als Portier ge- dient... Ich kenne alle Vorschriften. Der Bauer aber ist ein simpler Mann, .der kapiert nichts, und so hat er auf mich zu hören, denn warum? - es geschieht ja zu seinem Nutzen. Nehmen wir zum Beispiel die Geschichte hier... Ich treibe 'das Volk auseinander, auf dem Ufersand aber liegt der ertrunkene Leichnam eines toten Mannes. Aus welchem ursächlichen Grunde, frage ich, liegt er dort? Und das nennt ihr Ordnung? Warum läßt der Polizeiwachtmeister das zu? Warum, sage ich, Wachtmeister, berichtest du der Obrigkeit nichts darüber? Es könnte ja sein, daß dieser ertrunkene Tote ganz von allein ertrunken ist, es könnte aber auch sein, daß diese Sache nach Sibirien schmeckt. Es wäre möglich, daß hier eine verbrecherische Totsclägerei unter- 6 laufen ist... Der Polizeiwachtmeister Schigin aber achtet nicht darauf, sondern raucht nur seine Zigarette. »Was habt ihr da, sagt er, für einen Aufseher? Von wo, sagt er, habt ihr den hergenommen? Als ob wir, sagt er, ohne den nicht wissen, wie wir uns verhalten sol- len?« Das bedeutet, sage ich, daß du es nicht weißt, du Dummkopf, wenn du hier stehst und auf nichts achtest. tikel des Gestzbuches? Kann denn in solchen Angelegenheiten, wo es sich um Ertrunkene oder Erhängte oder dergleichen handelt, ist denn in solchen Angelegenheiten der Land- polizeichef zuständig? Dies, sage ich, ist eine kriminelle Sache, eine zivile ... Hier, sage ich, muß man schnellstens eine Stafette an den Herrn Untersuchungsrichter und die an- deren Herren Richter absenden. Und-überhaupt mußt du als erstes, sage ich, ein Protokoll aufnehmen und dieses dem Herrn Friedens- richter zustellen. Jener aber, der Polizeiwacht- meister, der hört alles an und lacht nur. Und so auch die Bauern. Lachten alle miteinander, Euer Hochgeboren. Das kann ich unter Eid aussagen. Dieser da lachte und jener dort, und auch Schigin lachte. Warum, sage ich, fletscht ihr die Zähne? Der Wachtmeister aber, der sagt: Dem Friedensrichter, sagt er, dem unterstehen solche Angelegenheiten nicht. Von diesen selben Worten wurde mir ganz heiß. Wachtmeister, das hast du doch gesagt?" so wendet sich der Unteroffizier an den Wacht- meister Schigin. .Ja, habe ich gesagt." .Haben alle gehört, wie du selbiges vor all dem einfachen Volk aussprachest: Dem Frie- densrichter unterstehen solche Angelegen- heiten nicht Haben alle mit angehört, wie du dieses selbe ... Euer Hochgeboren, mir wurde ganz heiß dabei, ich wurde geradezu verzagt. Wiederhole, sagte ich, wiederhole mal, du, der und jener, was du da gesagti Und er kommt wieder mit den gleichen Worten ... Ich auf ihn los. Wie, sage ich, wie kannst du so was über den Herrn Friedensrichter aus- sagen? Du, ein Polizeiwachtmeister, stellst dich wider die Regierung? Wie? Ja, weißt denn du nicht, sage ich, daß der Herr Frie- densrichter dich, wenn er will, für solche Worte vor die Gouvernementsgendarmerie- verwaltung zitieren kann aus Gründen dei- nes unzuverlässigen Verhaltens? Ja, weißt denn du nicht, sage ich, wohin dich für solche politischen Äußerungen der Herr Friedens- richter verbannen kann? Der Älteste aber sagt da: Der Friedensrichter, sagt er, darf nichts vorschreiben, was über seine Grenzen geht. Seiner Gerichtsbarkeit unterstehen nur die kleinen Sachen. Genau so hat er gesagt, das haben alle gehört... Wie wagst du, sage ich, auf diese Weise die Regierung herabzu- setzen? Hör mal, sage ich, du darfst dir mit mir keine Späßchen erlauben, das könnte dir schlecht bekommen, Bruder. Vormals, in War- schau, oder als ich im klassischen Knabenpro- gymnasium als Portier war, wenn ich solche unschicklichen Worte vernahm, dann schaute keine Weise zu fassen, warum dieser Frie- densrichter so aufgeregt ist und warum aus allen Ecken des Amtszimmers bald Raunen, bald wieder unterdrücktes Gelächter hörbar wird. Unverständlich ist ihm auch das Urteil: einen Monat Hafti .Wofür denn?i" sagt er und breitet in Ver- ständnislosigkeit die Arme aus. <Nach wel- chem Gesetz denn?" ich mithin auch den Wachtmeister... Und so ging's weiter ... Ich erhitzte mich, Euer Hoch- geboren, je nun, und wenn es soweit ist, dann ist es ja unmöglich, ganz ohne Prügel.., Wenn man einen dummen Menschen nicht prügelt, ladet man eine Sünde auf die eigene Seele. Insbesondere, wo es verdient wird... zumal wenn Unregelmäßigkeiten vorkommen...» .Gestatten Sie malt Es sind doch Personen eingesetzt, die auf Unregelmäßigkeiten zu schauen haben. Dazu ist der Polizeiwacht- meister da, der Älteste, der Polizeiaufseher...» .Der Polizeiwachtmeister kann nicht alles wahrnehmen, außerdem vermag ein Polizei- wachtmeister das alles gar nicht zu kapieren, was ich verstehe...« Welt leben könne. Düstere und schwermütige Gedanken bemächtigen sich seiner. Indes, da er das Amtszimmer verläßt und sieht, wie die Bauern sich drängen und über etwas sprechen, nimmt er nach alter Gewohnheit, die er nicht mehr zu überwinden vermag, Haltung an, legt die Hände an die Hosennähte und schreit mit heiserer, wütender Stimme: <Auseinanderrr, Volkt Drrangt euch nicht! Marrsch, nach Hauset" Deutsch von Johannes von Guenther Foto: Cartier Bresson-Magnum .Aber so begreifen Sie doch, daß das nicht Ihre Sache isti" Zeitzeichen <Wie bitte? Wieso nicht meine? Komisch... Leute treiben Unfug, und das soll nicht meine Sache sein? Ja, soll ich sie deswegen vielleicht gar beloben oder wie? Da beklagen die sich bei Ihnen, daß ich verbiete, Lieder abzu- singen... Was Gutes ist denn überhaupt an solchen Liedern? Statt sich mit ernsthaften Dingen zu befassen, kommen die mit Lie- dern... Und dann haben sie eine Mode eingeführt, abends bei Licht zu sitzen. Man muß doch zu Bett gehen, die aber kommen mit Unterhaltungen und Gelächter. Hab ich alles aufgeschrieben 1" <Was haben Sie aufgeschrieben?" <Wer bei Licht sitzt." Prischibejew holt einen fettigen Zettel aus der Tasche, setzt die Brille auf und liest: .Welche Bauern bei Licht sitzen: Iwan Pro- chorow, Sawa Mikiforow, Pjotr Petrow. Die Soldatenfrau Schustrowna, Witwe, lebt in lasterhafter Gesetzlosigkeit mit Semjon Kis- low. Ignat Swertschkow befaßt sich mit Zau- berei, und seine Frau Mawra ist eine Hexe, sie geht nachts aus, um fremde Kühe zu mel- ken." .Schluß" sagt der Richter und beginnt die Zeugen zu vernehmen. Der Unteroffizier Prischibejew schiebt die Brille auf die Stirn und sieht voller Verwun- derung den Friedensrichter an, der augen- scheinlich nicht auf seiner Seite ist. Seine her- -orgequollenen Augen blitzen, seine Nase färbt sich knallrot. Er blickt den Friedens- richter und die Zeugen an und vermag auf Die lautlose Trommel der Zukunft hängt heute am Leib des Werbers, der auf dem Marktplatz steht. Verhüllt hält die Wache die Fahne und horcht auf den Ruf aus der Festung, der um das Land euch betrügt. Fackeln am Anfang der Straßen erwarten die letzte Nacht, schon leuchten die Wetter und endet das Lied der Knechte im Dorf. Der Brand in den Haaren verschollener Väter ließ euch die Schläfen kühl, die Schlägel der Zukunft rührt wieder der Werber, ~der auf dem Marktplatz steht. Jürgen Becker
This material may be protected by copyright law (e.g., Title 17, US Code).| For information on re-use see: http://digital.library.wisc.edu/1711.dl/Copyright