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Aufwärts
Jahrgang 8, Nr. 20 (September 29, 1955)
Eßlinger, Heinz
"Wir brauchen euch nicht!", p. 4
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Delegation aus M'loskau empfingen die Russen die Delegation der DDR unter Führung Grote- wohls und des vor kurzem wieder einmal politisch totgesagten Ulbricht. In einem Ver- trag zwischen beiden Regierungen wurde ver- einbart, daß die DDR die Entscheidungs- freiheit in Fragen ihrer Innen- und Außen- politik, einschließlich der Frage der Be- ziehungen zur Bundesrepublik', erhält und daß die sowjetische Hochkommission in Ostberlin aufgelöst wird. Die russischen Truppen bleiben laut Ulbricht im Lande, Ssolange die west- alliierten Truppen in der Bundesrepublik ver- bleiben'. -- Und das tun sie laut Pariser Verträge für 50 Jahre... Durch eine neue Militärrevolte ist das Schicksal des argentini- schen Faschisteniührers Peron endgültig ent- schieden worden. Wie sein Sgroßes" Vorbild Adolf Hitler hat er Im ganzen zwölf Jahre die Herrschaft über Argentinien ausüben können. Mit Hilfe der Reserven aus der Kriegs- und Nachkriegskonjunktur konnte er den argen- tlinischen Volksmassen eine Verbesserung ihrer sozialen Situation gewähren. Wie Hiler gelang es ihm und seiner Eva, das Volk eine Zeitlang über den Verlust der politischen Freiheit hinwegzutäuschen. Dem immer mehr verstärkten Druck der sich aus allen Volks- kreisen zusammensetzenden Opposition konnte sein mit wirtschaftlichen Schwierig- keiten kämpfendes Regime schließlich nicht mehr standhalten. - Wie in Deutschland wird es das Volk sein, das die Zeche des Abenteurers Peron bezahlen muß. Wobei man nicht vergessen sollte, daß die argentinischen Gewerkschaften nur Schein- gewerkschaften sind. wAul Beschluß ihres DGB-Orts- ausschusses haben 40 000 Beleg- schalIsmitglieder in 100 Betrieben der Stadt Mülheim-Ruhr für eine Woche lang ihre Früh- stücksmilch abbestellt. Für andere Städte des Ruhrgebietes sind ähnliche Maßnahmen vor- gesehen, wenn die Bundesregierung die Er- höhung des Milchpreises trotz aller Wider- stände durchzusetzen gedenkt. - Die Milchpreiserhöhung Ist offenbar als Strafe dafür gedacht, daß der deutsche Arbei- ter mehr und mehr zum gesunden Milch- trinken übergegangen ist, anstatt sich wie in anderen Ländern dem Wein- oder Bierkonsur hinzugeben. sUm rund zehn Prozent dürften die Steuereingänge dieses Jahres über denen des Vorjahres liegen, wie aus Schätzungen der Bundesregierung hervorgeht. Dennoch soll eine allgemeine Steuersenkung nicht eingeführt werden, da sie »konjunktur- politisch unangebracht" sei. Zum Steuer- problem hat der Bundesvorstand des DGB ge- fordert, allen Lohnsteuerpflichtigen einen Ausgleichsfreibetrag von fünf Prozent zu ge- währen. - Gegenüber den Abschreibungsmöglichkeiten der Einkommensteuerzahler ist das geradezu ein Akt ausgesuchter Bescheidenheitl Die Zahl der täglich in Berlin um Aufnahme In die Bundes- republik nachsuchenden Bewohner der Sowjet- zone wird seit einigen Monaten täglich größer. Die Mehrzahl der Herübergekommenen gibt nicht mehr politische Verolgung, sondern die allgemeinen Verhältnisse in der Sowjetzone als Fluchtgrund an. Viele suchen in der Bundesrepublik die besseren Arbeltsbedingun- Die Regierung faßt das Kriegsdienstverweige- rungsrecht als ein staatliches Privileg, sozu- sagen als Ausnahmerecht, auf, das erst durch die in Aussicht gestellte gesetzliche Regelung Gestalt gewinnen und auch dann jederzeit- etwa bei Uberschreitung einer gewissen Höchstzahl - aufgehoben werden könne. (Ein Ministerialdirektor nannte vor kurzem die Zahl 100 000, bei deren Uberschreitung ,chaotische Zustände» drohten, weshalb man dann unerbittlich alle Verweigerer <ins Loch" stecken müsse.> Der Kriegsdienstverweigerer wird also als geduldeter Rechtsbrecher, den der Staat vorläufig nicht bestraft, angesehen (,Gnadenakt des Staates). Grundsätzlich - so sagt man - fordere der Staat mit Recht von jedem Gehorsam, und zwar auch dann, wenn dadurch Gewissensnöte für den einzel- nen aufträten. Die Opposition vertritt demgegenüber den Standpunkt, das Kriegsdienstverweigerungs- recht sei ein echtes Grurndrecht im Sinne eines vorstaatlichen Rechtes und besitze unmittel- bare Rechtsgeltung. Sie weist darauf hin, daß dieses Recht absolut sein müsse, weil es nur einen Sonderfall der- im selben Artikel 4 als unverletzlich geschützten Freiheit des Glaubens, des Gewissens und des welt- anschaulichen Bekenntnisses darstelle. Diese Auffassung dürfte als die vorherrschende an- zusprechen sein; auch die SGesellschaft zur Wahrung der Grundrechte e. V." ist bei ihrem Gesetzesvorschlag zu Artikel 4 Abs. 3 GG hiervon ausgegangen. Es entspricht dem Sinn dieser Verfassungsbestimmung, die an mar- kanter Stelle im Grundrechts-Katalog steht, wenn das zu erlassende Ausführungsgesetz die einzelnen Schutzvorschriften für den Kriegsdienstverweigerer, nicht aber eine Ein- engung seines verfassungsmäßigen Rechtes enthält. Die Regierung bemüht sich noch anderweitig um eine Einengung des Kriegsdienstverweige- rungsrechtes, indem sie als Gewissensgründe, die gemäß Art. 4 Abs. 3 GG zur Wehrdienst- verweigerung berechtigen (,Niemand darf gegen sein Gewissen ...<), nur religiöse und ethische Gründe anerkennen will. Von maß- geblicher Seite wurde in diesem Zusammen- hang erklärt: SEs gibt keine Weigerung, auf den eigenen Vater zu schießen!' Nun hat der Gesetzgeber sicherlich die freie Entscheidung des Individuums in seelische Bereiche ver- legen wollen, wenn er sich nicht auf die - oft rein formale - Zugehörigkeit zu einem bestimmten Bekenntnis oder auch zu einer Weltanschauung bezog. Doch ergibt sich dar- aus nicht ohne weiteres, daß er nur religiöse und ethische, nicht aber auch politische (.Bru- derkrieg") und humanitäre (SMassenvernich- tung') Motive gemeint haben kann. Das Ge- wissen als letzte moralische Instanz ist doch aufzufassen als jene innere Stimme in uns, die in allen menschlichen Belangen darüber entscheidet, was Gut und Böse, was Recht und Unrecht ist, und was wir tun oder unterlassen sollen. Es gibt also nur ein .einheitliches, un- teilbares Gewissen, das auf den Einzel- menschen bezogen ist. Für den einzelnen aber ist seine Gewissensentscheidung eine persön- liche Entscheidung, die jede Staatsgewalt strikt und ohne Einwand zu respektieren hat, wenn letztere nicht ihre im Grundgesetz ver- ankerte Ausgangsstellung wieder aufgeben will. Wie will der Staat auch sich zum Richter machen über das Innerste des Menschen, das Gewissen, in das er nicht hineinsehen kann? Wie will er benriinden daß eine nnlitische schied gemacht werden. Uberdies würde es schon einen gesetzwidrigen Eingriff in die Menschenwürde (Art. 1 GG), die Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 3) und die Unverletz- lidkeit des Gewissens bedeuten, wenn junge Wehrdienstverweigerer etwa einer Kommis- sion zur Gewissenserforschung vorgeführt würden, um ermitteln zu lassen, ob in ihnen nicht etwa andere Motive als religiöse oder ethische wirksam seien. und möglichst breite soziologische Zusammen- setzung besonders sicherzustellen wären. Es erscheint angebracht, gewisse anerkenens- werte Verweigerungsmotlve gesetzlich fest- zulegen und zugleich auch gewisse Fälle un- berechtigter Wehrdienstverweigerung von vornherein auszuscheiden. Fortsetzung Seite 8 <Wir brauchen euch nicht!" Von Hleinz IMing« .Wenn ich in Urlaub fahre, muß ich es selbst bezahlen, so sollen es die Jugendlichen aus der Sowjetzone auch machen." Diese Antwort gab der Leiter eines großen westdeutschen Industriebetriebs, als man ihn um eine Spende für die Betreuung von jugendlichen Urlaubern aus der Sowjetzone bat. Ein Jugendherbergsvater fragte: SWarum seid ihr herübergekommen, wir brauchen euch nicht." Auf einem Sozialamt hieß es: .Ihr wollt euch ja nur auf unsere Kosten vollfressen." Eine Bäuerin, die von erschöpften Radfahrern um ein Getränk angegangen wurde, meinte: SDraußen im Hof steht ein Brunnen. 7 Das sind nur einige wenige Erlebnisse, die wir von jungen Menschen aus Mitteldeutsch- land gehört haben, die in diesem Jahr ihre Ferien in der Bundesrepublik verbrachten. Es sind beileibe nicht die einzigen Erlebnisse, aber es sind die eindrucksvollsten, die mehr als alle vollen Schaufenster die Meinung dieser jungen Besucher über die westdeutsche Bevölkerung prägen.SIhr seid nur an eurer eigenen Bequemlichkeit interessiert. Die Wiedervereinigung ist für die meisten West- deutschen ein Lippenbekenntnis." Das war immer wieder der Grundton ihrer Ansichten, wenn man sie überhaupt zu einer Diskussion über diese Frage bewegen konnte. Mit dieser Meinung kehren sie in ihre Heimat zurück. SIn Ostdeutschland wird der Materialismus gepredigt, In Westdeutschland wird der Ma- terialismus gelebt." Diesen Ausspruch berich- tete die Kontaktstelle für jugendliche Sowjet- zonenbesucher in Friedrichshafen am Boden- see als wesentliches Ergebnis aus Hunderten von Gesprächen. Mit den auf Initiative des Landesjugendringes eingerichteten Kontaktstellen hat man in Baden-Württemberg sowie auch in Hamburg und Bremen in diesem Jahr zum erstenmal den Versuch gemacht, den jungen Besuchern nicht nur einige Gutscheine zur Einlösung in den Jugendherbergen in die Hand zu drücken, sondern einen menschlichen Kontakt mit ihnen anzubahnen. Man wollte Kontakte mit Familien und Jugendorganisationen herstellen, Betriebsbesichtigungen und Fahrten organi- sieren, durch das Gestrüpp unserer Behörden helfen, freien Eintritt zu Ausstellungen und kostenlose Kinobesuche ermöglichen und bei Bedarf auch finanzielle und materielle Hilfe gewähren, natürlich alles auf freiwilliger Basis. Fünftausend jugendliche Urlauber aus der Sowjetzone zä hlte man in diesem Som- atmeten hörbar auf, wenn sie bei uns'i Westen nicht als Dank für kleine Hilfe- leistungen noch eine politische Propaganda- rede oder gar politische Aufträge in Kauf neh- men mußten, wie sie vielfach befürchtet hatten. Aber haben wir diese einzige Möglichkeit, einmal mit unseren Altersgenossen aus dem östlichen Teil unseres Landes in Verbindung zu kommen, wirklich genügend ausgenutzt. Leider muß man diese Frage nach den dies- jährigen Erfahrungen verneinen. Gewiß, die Kontaktstellen in Baden-Württemberg haben sich hervorragend bewährt und werden im nächsten Jahr wahrscheinlich im ganzen Bun- desgebiet eingerichtet werden. Aber wo blieb das Echo der Bevölkerung? Mindestens drei der fünf südwestdeutschen Kontaktstellen arbeiteten unter Ausschluß der Ofentlichkeit. Das Ergebnis einer Industriesammlung war kläglich. Eine große Flugblattaktion der Kon- taktstelle UlmiDonau brachte zweimal 3 DM von zwei Rentnern und einmal 4 DM von einem Jugendlichen ein. In der Halbmillionen- stadt Stuttgart erbrachten wiederholte Presse- und Rundfunkaufrufe insgesamt 3 DM, vier Tafeln Schokolade, einige gebrauchte Klei- dungsstücke, einige Körbe Obst und Freikarten von zwei der 40 Kinos der Stadt. Einladungen von Familien gab es im ganzen Land zusam- men keine fünfzig. Die Jugendorganisationen waren so sehr mit ihren eigenen Problemen beschäftigt, daß sie vielfach keine Zeit hatten, sich um die Gäste aus dem Osten zu kümmern. Gerade der persönliche Kontakt und das menschliche Verständnis sind es, was die jugend- lichen Besucher bei uns am meisten vermißte. Das ist sogar noch wichtiger als die mate- rielle Hilfe, die natürlich auch nicht vernach- lässigt werden darf. Auch auf diesem Gebiet wurde leider nicht genügend getan. Die Jugendlichen bekamen Gutscheine über 3DM je Tag, im Höchstfalle jedoch 30 DM für den gesamten, oft mehrwöchigen Aufenthalt in Westdeutschland. Drei Mark für die Uber- nachtung und alle Mahlzeiten! Wer versucht es einmal, damit auszukommen? Vom Kauf einer Tafel Schokolade und anderen für uns selbstverständlichen Dingen wollen wir ganz schweigen. Wollen wir unsere mitteldeutschen Schwestern und Brüder, die durch ihre Ur- laubsreise nach Westdeutschland ihre Ver- bundenheit mit uns zum Ausdruck bringen, zum Betteln zwingen? Leider ist es bis heute so. Auf einer Pressekonferenz anläßlich der Abschlußtagung der Kontaktstellen in Stutt- gart wurde ausdrücklich abgelehnt, die Frage Jugendzeitsdrift des Deutschen Ge- indes. Verlag: Bund-Verlag GmbH., chließfach 6. Verlagsleiter: Wilh. Bie- ortl. Schriftleitung: Hans Dohrenbusch. tung: Willy Fleckhaus iabwesend). Tel. WARTS erscheint alle 14 Tage. Bestel- n Jugendfunktionären und Postanstal- reis durch die Post vlertelj. 1,15 DM stellgebühr. Unverlangt eingesandten Die Opposition behauptet demnach wohl nicht zu Unrecht, daß jeder Versuch, das Gewissen aufzuspalten, das demokratische Grundrecht der Gewissensfreiheit verletze, welches die Unverletzlichkeit des Gewissens als solche anerkenne (Art. 4 Abs. 1 GG). Der Artikel 4 Abs. 3 (Kriegsdienstverweigerungsrecht) sei nur von Artikel 4 Abs. 1 her richtig auszu- legen, der die entscheidende Rechtsquelle für die Frage der Gewissensgründe darstelle. Da in Art. 4 Abs. 1 im Zusammenhang mit der Freiheit des Glaubens und des Gewissens auch ese kritischen ÄKußerungen und Mißstände ließen nicht aus, daß der größte Teil der ngen Besucher von drüben von Westdeutsch- id begeistert war. Es sind fast ausschließlich a materiellen Güter, die unsere Anziehungs- art ausmachen. Aber besteht der Westen nur sAutos, schlechten Filmen und Neonreklame? äre es nicht noch viel wertvoller, wenn die gendlichen von drüben bei ihrem ersten
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