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Drews, Richard; Kantorowicz, Alfred, 1899- (ed.) / Verboten and verbrannt, deutsche Literatur 12 Jahre unterdrückt
([1947])
Hugo von Hofmannsthal, pp. 72-73
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normal gebildeten Ohrmuscheln stehen welt vom Schadel ab. Die linke ist oben, nahe bei-n Rande, durchbohrt. Dort hat Gandhi als Kind den bei den Hindu ublichen Ohrring getragen. Das- Haupthaar ist - bis auf die einzige lange Haarstrahne, die jedem giaubigen Hindu vom Hinterhaupt herabhangt - wegrasiert. Die Augen blicken sanft, schwarz in gelblichem Schimmer, fast in jugendlicher Frische, das ist das Charakteristische an der sonst so unauffalligen Erscheinung; ein jugendlich frisches Leuchten uber dem Gesicht des Sechsundfunfzigjahrigen. Seine Stimme ist angenehm, ohne sonoren Kiang. Er spricht in sehr gutem, gewahltem Englisch. Ein gutiges, oft naives Lacheln belebt das Gesicht, wobei die Zahnliicke zum Vorschein kornmt. Wenn das Gesprach auf heitere Dinge kommt, ein herzliches, halb- lautes Lachen. Keine Zuriickhaltung, ganz freies, ungezwungenes Wesen, ohne ,,Wiurde"; hie und da kleine, wie erlauternde, formende Bewegungen der Hande; Verlangsamen der Worte, sobald ich etwas aufschreibe; freundlich wartender Blick, vorgeneigter Kopf, wenn ich spreche. Wir sprechen uber eine Stunde lang. Mein Begleiter, die beiden Schuiler des Mahatma, auf dem Boden derweil ohne Regung, ohne Laut, wie erstarrt. Die Briefe, Telegramme liegen unbeachtet da. - Nachher bedient sich Gandhi einer Hornbrille zum Lesen; beim Schreiben - mit der linken wie mit der rechten Hand - eines Fullfederhalters. Die ganze Zeit sitzt er mit unter- geschlagenen Beinen hinter dem niedrigen Schreibpult auf der Matratze, sein Lendenschurz bedeckt den Unterleib vom Nabel bis an die Knie. Die Schiller tragen weiile Jacken, das weiBe, um die Beine geschlungene Tuch, die weiBe Kappe, die die Anhanger Gandhis in ganz Indien als solche kennzeichnet - es ist die Str~flingskappe, die der Mahatma im Gefangnis trug. HUGO VON IHOFMANNSTHAL 1874 in Wien geboren, sclirieb Gedichte werden. Gedankentiefe Essays vereinigte und Prosa von erstaunlicher Frlihreife: der Band ,,Die Dertihrung der SphAren'. sein Spiel vom ,,Jedermann' (seinerzeit Hofmannsthal, 1929 gestorben, gehorte zU von Max Reinhardt im Rahmen der Salz- denen, deren Bticher wahrend des ver- burger Festspiele inszeniert), sein Myste- gangenen Jahrzwolfts nicht neu Auf- riendrama .,Der Tor und der Tod", sein gelegt werden durften. - Aus einem 1901 Lustspiel ,,Der Schwierigel, seine ,,Elek- geschriebenen BRIEF Iofmannsthals tra' und die Dramen ,,Tursn" und ,,Das (in dem im Suhrkamp-Verlag, Berlin, er- Bergwerk von Falun" gehiren zu den schienenen Taschenbuch ftir junge Men- Schopfungen, die nicht sobald yergehen schen nach Jahren Wieder verbffentlicht): Ich welB nicht, auf was hin die Leute leben, das 1st es, und je langer ich mich unter ibnen bewege, urn so weniger weiB ich es. Sie sind ernsthaft, sie sind ttichtig, sie arbeiten wie keine Nation auf der Welt, sie erreichen das Unglaubliche - aber es ist keine Freude, unter ihnen zu leben. DaB ich achtzehn Jahre fort war und nun zurtick bin und das beschreiben muB! Irr' ich mich? Wie gem mochte ich mich irren! Ich verhandle, und ich verkehre, und ich werde freundlich aufgenommen, und ich mache Diners mit, und ich werde aufs Land eingeladen, und ich sehe alte Manner und junge Manner, IHinaufgekommene und Leute von Familie, Manner in Amtern und Manner mit einem riesigen Vermogen, Menschen, die noch viel vom Leben erwarten, und Menschen, die mit dem Leben abgeschlossen hahen, und ich kann ihrer nicht froh werden. Und ich werde so gern eines Menschen froh! Ich achte so geli! DcllIe sscht, daB ich ihre Leistungen nicht achte, da mrtil.te ich ein
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